Lohngerechtigkeit Lesezeit 4 Min.

Chancen wiegen mehr als Transfers

„Ist der Brutto-/Nettoverdienst, den Sie in Ihrer jetzigen Stelle bekommen, aus Ihrer Sicht gerecht?“ Diese Frage beantwortet die Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland mit „Ja“. Allerdings sind die meisten Arbeitnehmer mit ihrem Bruttogehalt zufriedener als mit dem, was netto übrig bleibt.

Kernaussagen in Kürze:
  • Eine Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, dass sich die Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland gerecht entlohnt fühlt.
  • Das Zahlen von Steuern und Sozialabgaben übt aber offenbar einen negativen Einfluss auf das Gerechtigkeitsempfinden aus – insbesondere in den unteren und mittleren Bruttolohnklassen.
  • Löhne werden von den Beschäftigten als gerechter empfunden, deren Möglichkeiten im Leben nicht von den sozialen Umständen abhängen, sondern vielmehr Ergebnisse des eigenen Handelns sind.
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Ist es gerecht, wenn ein Krankenpfleger 2.388 Euro im Monat verdient? Und der Oberarzt 7.432 Euro? Und der Chefarzt mehr als 10.000 Euro? Über Lohngerechtigkeit wird viel diskutiert, vor allem in Zeiten von Tarifverhandlungen, wie sie gerade im öffentlichen Dienst stattfinden (siehe: „Öffentlicher Dienst: Neue Runde, bekanntes Muster“). Da geben sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeber vor zu wissen, was eine angemessene Lohnerhöhung wäre, die zu einer gerechten Entlohnung führt.

Aber was sagen eigentlich die Arbeitnehmer selbst? Fühlen sie sich gerecht bezahlt?

Die für viele Skeptiker überraschende Antwort lautet: Ja, die Mehrheit der Beschäftigten fühlt sich gerecht entlohnt. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut der deutschen Wirtschaft in einer Analyse, die auf Daten von rund 13.200 abhängig Beschäftigten zwischen 16 und 69 Jahren basiert. Die Arbeiter und Angestellten arbeiteten im Befragungsjahr 2015 entweder Vollzeit, Teilzeit oder waren geringfügig beschäftigt. Ausgeschlossen waren einzelne Beschäftigtengruppen, zum Beispiel Auszubildende, Praktikanten, Wehrdienstleistende, Soldaten, Altersteilzeitbeschäftigte mit Nullstunden, Ein-Euro-Jobber und Selbstständige.

Das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung zur Lohngerechtigkeit lautet (Grafik):

Die meisten Beschäftigten in Deutschland, rund 61 Prozent, empfinden ihren Bruttolohn als gerecht.

So viel Prozent der Beschäftigten in Deutschland empfinden ihren Brutto- bzw. Nettoverdienst als gerecht Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

In fast allen Lohngruppen steigt allerdings das Ungerechtigkeitsempfinden, wenn sie ihren Nettoverdienst beurteilen sollen. Den halten nämlich nur noch rund 55 Prozent aller Beschäftigten für gerecht – das sind rund 5 Prozentpunkte weniger als bei der Betrachtung des Bruttolohns. In lediglich zwei Gruppen ist es umgekehrt: Arbeitnehmer mit Abgabenbelastungen von weniger als 16 Prozent und geringfügig Beschäftigte halten im Durchschnitt ihren Nettolohn für gerechter als ihren Bruttolohn.

Beschäftigte empfinden ihre Löhne als gerechter, wenn ihre Möglichkeiten im Leben nicht von den sozialen Umständen abhängen, sondern vom eigenen Handeln.

Was folgt daraus? Eigentlich sind Steuern und Sozialabgaben auch dazu da, Lohnspreizungen zu verringern und staatliche Transferzahlungen zu finanzieren. Das müsste vor allem von Arbeitnehmern mit geringem Erwerbseinkommen goutiert werden, insbesondere dann, wenn sie Arbeitslosengeld II, Wohngeld, Kinderzuschläge oder Hilfe für den Lebensunterhalt beziehen. Tatsächlich ist dies aber nicht immer der Fall. Das Zahlen von Steuern und Sozialabgaben übt offenbar einen negativen Einfluss auf das Gerechtigkeitsempfinden aus – insbesondere in den unteren und mittleren Bruttolohnklassen.

Viele Einflussfaktoren auf Gerechtigkeitsempfinden

Während Männer und Frauen ihre Löhne mehr oder weniger gleich beurteilen, fühlen sich Verheiratete im Schnitt ungerechter bezahlt als ledige Beschäftigte. Leben Kinder unter 16 Jahren mit im Haushalt, wirkt sich dies ebenfalls negativ auf die Beurteilung der Lohngerechtigkeit aus.

Die größte Ungerechtigkeit empfinden Bezieher von Erwerbseinkommen mit einer mittleren Abgabenlast zwischen 26 und 35 Prozent – in dieser Gruppe betrachtet nur knapp die Hälfte ihr Nettogehalt als gerecht.

Zudem fühlen sich Beschäftigte, die Vollzeit arbeiten, in der Regel ungerechter entlohnt als teilzeit oder geringfügig Beschäftigte. Gleiches gilt für Arbeitnehmer mit viel Berufserfahrung im Vergleich zu unerfahreneren Kollegen.

Auch die Tarifbindung wirkt sich auf das Gerechtigkeitsempfinden aus: Besonders positive Wirkungen entfaltet sie bei den Beziehern niedrigerer Bruttostundenlöhne. Entscheidenden Einfluss kann auch die Betriebsgröße haben. Beschäftigte, die entweder in sehr kleinen Betrieben mit weniger als elf oder in sehr großen Firmen mit mehr als 2.000 Mitarbeitern arbeiten, bewerten ihren Bruttolohn meist als gerechter als jene, die in mittleren Betrieben arbeiten.

Wenig überraschend ist der Befund, dass mit steigendem Gehalt auch die empfundene Lohngerechtigkeit zunimmt (Grafik):

Fast 80 Prozent derjenigen, die mindestens 23,09 Euro brutto in der Stunde verdienen, bewerten ihren Lohn als angemessen – in den Lohngruppen darunter sind es nur 49 bis 66 Prozent.

Gerechtigkeitsempfinden der eigenen Entlohnung von Beschäftigten mit unterschiedlichen Verdiensten Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Allerdings steigt mit dem Einkommen auch die Kluft zwischen Brutto- und Netto-Glück: Je höher das Einkommen, desto größer wird der Abstand zwischen den als gerecht empfundenen Brutto- und Nettoverdiensten.

Zwar schafft sowohl die direkt am Lohnfindungsprozess ansetzende als auch die nachgelagerte Umverteilung mehr Gleichheit, allerdings nicht automatisch mehr wahrgenommene Lohngerechtigkeit. Das heißt nicht, dass man auf die Umverteilungsmechanismen in einer sozialen Marktwirtschaft verzichten sollte, aber um die individuelle Lohngerechtigkeit zu erhöhen, sind offensichtlich andere Instrumente nötig.

Zu den staatlichen Hebeln, die das Gerechtigkeitsempfinden positiv beeinflussen können, zählen die Verfahrens- und Chancengerechtigkeit. Wer die Erfahrung gemacht hat, dass seine Möglichkeiten im Leben nicht von den sozialen Umständen abhängen, sondern vielmehr Ergebnisse des eigenen Handelns sind, fühlt sich wesentlich gerechter entlohnt als jemand, der das System als wenig chancengerecht einschätzt. Was die Chancengerechtigkeit verbessern würde, wären beispielsweise der quantitative und qualitative Ausbau der Kinderbetreuung sowie die Erweiterung der Ganztagsschulangebote.

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