Bildungspolitik Lesezeit 6 Min.

„Bildung ist ein kumulativer Prozess“

Der Ökonom Axel Plünnecke leitet im Institut der deutschen Wirtschaft (IW) das Kompetenzfeld Bildung, Zuwanderung und Innovation. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hat den Professor nun in die Sachverständigenkommission berufen, die den Neunten Familienbericht der Bundesregierung erarbeiten soll. Ein Interview mit dem IW-Bildungsforscher über seine Perspektiven als berufstätiger Vater, die Arbeit am Bericht und das deutsche Bildungssystem.

Kernaussagen in Kürze:
  • Axel Plünnecke, Bildungsexperte im Institut der deutschen Wirtschaft, plädiert dafür, die Förderung von Kindern aus bildungsfernen Familien deutlich zu verbessern.
  • Die Politik sollte keine Energie auf Schulstrukturdebatten vergeuden, sondern alle Ressourcen nutzen, um die Qualität des Unterrichts zu verbessern.
  • Den entscheidenden Schlüssel, um die Chancengleichheit für Kinder zu verbessern, sieht der IW-Bildungsforscher in einer guten frühkindlichen Bildung.
Zur detaillierten Fassung

Herr Plünnecke, Gratulation zu Ihrer Berufung in die Kommission. Wie müssen wir uns diese Aufgabe vorstellen?

Mindestens in jeder zweiten Legislaturperiode erstellt eine Kommission einen Familienbericht für die Bundesregierung. Er soll die Situation von Familien in Deutschland untersuchen und Handlungsempfehlungen für die Politik liefern.

Die interdisziplinär zusammengesetzte Kommission analysiert zum Beispiel, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert und der soziale Aufstieg erleichtert werden kann. Einen Blick wird der kommende Bericht auch auf die Frage richten, wie sich die Digitalisierung für Familien in diesem Rahmen auswirken wird.

Im Zentrum des Neunten Familienberichts soll das Thema „Elternschaft in Deutschland“ stehen. Sie selbst sind Vater. Was macht Deutschland gut für Eltern ...

Die Rahmenbedingungen für Familien wurden in den vergangenen Jahren verbessert. Zu nennen wären da zum Beispiel das Elterngeld und der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung in Kitas, der laut Koalitionsvertrag auf die Nachmittagsbetreuung an Grundschulen ausgedehnt werden soll. Außerdem will die Koalition die Qualität der Kitas weiter verbessern.

… und was schlecht?

Trotz Rechtsanspruch fehlen noch Betreuungsplätze – vor allem für die unter Dreijährigen. Das liegt auch daran, dass es viel zu wenig Erzieherinnen und Erzieher gibt.

Verbesserungswürdig sind außerdem die Öffnungszeiten der Ganztagsschulen: Wer Vollzeit arbeiten will, findet nicht immer eine Betreuungseinrichtung, die entsprechend flexible Betreuungszeiten anbieten kann.

Die öffentlichen Ausgaben je Kind sollten dort am höchsten sein, wo die Herausforderung, Bildungsarmut zu bekämpfen, am größten ist.

Bei diesem Thema sind die lokalen Unterschiede allerdings immens: Einige Kommunen praktizieren bereits eine gute Familienzeitpolitik, in anderen passen die Zeitstrukturen von Kita, Schule, dem öffentlichen Nahverkehr und anderen Taktgebern nur schlecht zusammen.

Ganz besonders verbessern müssen wir aber die Förderung von Kindern aus bildungsfernen Familien.

Aufgabe der Familienpolitik ist es, Eltern dabei zu unterstützen, das Beste für ihre Kinder zu erreichen. Was sollte die Politik also unternehmen, beispielsweise um die Integration von Migranten zu verbessern und Kinder aus sozialen Brennpunkten besser zu fördern?

Eine zentrale Stellschraube ist die frühkindliche Förderung. Ich würde mir wünschen, dass die vom Bund in Aussicht gestellten Milliarden für Kitas von den Ländern und Kommunen primär für eine bessere individuelle Förderung der Kinder verwendet werden und erst sekundär dafür, die Gebühren abzuschaffen – sofern diese, wie in den meisten Gemeinden, weiterhin sozial verträglich gestaltet werden.

An den Schulen sollten die Mittel zur sozialpädagogischen Förderung stärker nach einem Sozialindex eingesetzt werden, sprich: Die öffentlichen Ausgaben je Kind sollten dort am höchsten sein, wo die Herausforderung, Bildungsarmut zu bekämpfen, am größten ist.

Bei der Familienpolitik geht es oft um Bildungspolitik. Was sind hier die größten Herausforderungen?

Axel Plünnecke ist Leiter des Kompetenzfelds Bildung, Zuwanderung und Innovation im Institut der deutschen Wirtschaft / Foto: IW Medien Die Schulen stehen vor den großen Aufgaben der Inklusion, Integration und Digitalisierung. Hier besteht ein großer Weiterbildungsbedarf für die Lehrerinnen und Lehrer.

Gleichzeitig fehlt es an Lehrkräften, da viele in Pension oder Rente gehen und nicht genügend junge Pädagogen nachrücken.

Daher sollte die Politik keine Energie auf Schulstrukturdebatten vergeuden, beispielsweise auf jene über G8 versus G9 oder unterschiedliche Schulformen. Vielmehr sollte sie alle Ressourcen nutzen, um die Qualität des Unterrichts zu verbessern.

Deutschland ist reich, die Steuereinnahmen erreichen einen Rekord nach dem anderen, dennoch verfallen die Schulen und von Digitalisierung können viele Bildungsstätten noch immer nur träumen. Was läuft schief?

Verfall überspitzt die Lage sicher etwas, aber vielerorts besteht ein großer Investitionsbedarf, um die Gebäude zu sanieren.

Und beim milliardenschweren Digitalpakt geht es zunächst einmal nur darum, WLAN in ausreichender Stärke an den Schulen verfügbar zu machen. Die Lerninfrastruktur steht damit noch längst nicht zur Verfügung.

Hier helfen momentan oft noch Fördervereine aus, beispielsweise an der Schule meiner Kinder. Es darf aber nicht sein, dass der Geldbeutel der Eltern die Qualität der Lerninfrastruktur bestimmt.

Eigentlich müsste es genau umgekehrt sein: Gerade in sozial schwächeren Regionen müssten die Schulen top ausgestattet sein, damit die Kinder nicht bei digitalen Kompetenzen zurückfallen, die künftig für den Arbeitsmarktzugang noch wichtiger werden.

In der Ganztagsbetreuung sieht es auch nicht gut aus. Wie könnte der Staat das schnell ändern?

Befragungen der Eltern zeigen, dass die Flexibilität der Ganztagsangebote an den KITAs vergleichsweise gut ankommt. An den Schulen gibt es dagegen noch größeren Handlungsbedarf. In den vergangenen Jahren konnte das Angebot an Ganztagsplätzen vergrößert werden, jedoch ist die Qualität dieser Angebote sehr unterschiedlich und die zeitliche Flexibilität stark verbesserungswürdig.

Oft wird beklagt, dass Kinder in Deutschland ziemlich pfadabhängig sind: Wenn die Eltern schlecht verdienen, schaffen es auch die Kinder im Leben nicht weit. Stimmt das? Und wenn ja, was muss geschehen, um die Chancengleichheit zu verbessern?

Die Durchlässigkeit hat sich seit dem Jahr 2000 durchaus verbessert. Von den Nichtakademikerkindern studieren heute deutlich mehr als früher, der Zusammenhang zwischen dem Bildungshintergrund der Eltern und den PISA-Ergebnissen der Kinder ist weniger eng.

Der Schlüssel ist eine gute frühkindliche Bildung. Kommt ein Kind bereits mit guten Grundlagen in die Schule, kann es mehr aus dem schulischen Angebot machen.

Dennoch bleibt viel zu tun. Der entscheidende Schlüssel ist eine gute frühkindliche Bildung: Bildung ist ein kumulativer Prozess. Kommt ein Kind bereits mit guten Grundlagen in die Schule, kann es mehr aus dem schulischen Angebot machen.

Alle weiteren Investitionen des Staates bringen dann mehr Ertrag für die Lernleistung. Sind die Grundlagen bei der Einschulung dagegen schwach, bauen sich oft Rückstände auf – und die sogenannte Nachförderung, etwa in Berufsvorbereitungskursen vor dem Übergang in die Ausbildung, ist vergleichsweise teuer. Daher ist die frühkindliche Bildung aus ökonomischer Sicht so wichtig.

Der Familienbericht der Bundesregierung entsteht, weil der Bundestag die Regierung dazu verpflichtet hat. Aber glauben Sie wirklich daran, dass er irgendwelche Folgen hat – oder ist er letztlich nur ein Feigenblatt?

Der Bericht hat für die Familienpolitik eine wichtige Leitbildfunktion. Der Achte Familienbericht hatte den Schwerpunkt „Zeit für Familien“. Aufbauend auf dem Bericht wurde eine Reihe von Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf umgesetzt. Zu nennen ist etwa das ElterngeldPlus, das es jungen Eltern ermöglicht, schnell nach der Geburt in Teilzeit zu arbeiten und dafür länger Elterngeld zu beziehen.

Insgesamt gab es bei zentralen familienpolitischen Zielen wichtige Fortschritte: Die Erwerbswünsche der Eltern können heute deutlich besser erfüllt werden als früher. Gleichzeitig ist die Geburtenrate in den vergangenen Jahren von gut 1,3 auf rund 1,6 Kinder pro Frau gestiegen. Demnach wurden auch hier die Rahmenbedingungen verbessert.

Wichtig wäre es, im nächsten Familienbericht Impulse zu setzen, um alle Kinder optimal früh zu fördern und damit die Chancen auf ihren sozialen Aufstieg zu stärken.

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