„Aufgeschoben ist aufgeschoben“
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD blendet aus, dass Deutschland vor einer gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich entscheidenden Legislaturperiode steht, kritisiert IW-Direktor Michael Hüther im iwd-Kommentar.
- IW-Direktor Michael Hüther kritisiert am Koalitionsvertrag, dass er zwar viele kleinteilige Maßnahmen aufführt, aber die langfristige Sicherung des Wohlstands nicht im Blick hat.
- Deutschlands zentrale Herausforderungen seien beispielsweise, den demografischen Wandel zu meistern, die Digitalisierung voranzutreiben und Europas Zusammenhalt zu stärken.
- Im Groko-Vertrag würden zu vielen dieser Themen Kommissionen angekündigt, aber keine konkrete politische Richtung skizziert.
„Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land.“ Schon der Titel des Koalitionsvertrags lässt ahnen, was Union und SPD in der neuen Legislaturperiode vorhaben: Jede Gruppe wird irgendwie bedacht.
Fast 100 Vorhaben listet der Koalitionsvertrag auf, da geht es ums Bafög, ums Kindergeld, um den Wohnungsbau, die EU, die Mütterrente, die Krankenversicherung und und und – aber ums große Ganze, um die langfristige Sicherung des Wohlstands, geht es kaum. Ausgerechnet in diesem zentralen Punkt bleiben die Koalitionäre weit hinter dem zurück, was möglich und nötig wäre.
Was nötig ist, sind strukturelle Reformen. Es geht nicht darum, ein bisschen an dieser und jener Schraube zu drehen, sondern das große Rad – denn Deutschland steht vor einer gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich entscheidenden Legislaturperiode.
Deutschland steht vor einer gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich entscheidenden Legislaturperiode.
Sicher, der deutschen Volkswirtschaft geht es so gut wie lange nicht mehr. Die Konjunktur boomt, mehr Menschen als je zuvor haben Arbeit, die Steuereinnahmen sprengen einen Rekord nach dem anderen.
Dass das nicht ewig so weitergehen wird, versteht sich zum einen von selbst und ist zum anderen durchaus als Warnung zu verstehen. Denn die Bundesrepublik steht vor einer ganzen Reihe an Herausforderungen, und jede einzelne hat das Zeug, unser Land nachhaltig zu verändern. Zu nennen sind vor allem die Digitalisierung der Arbeitswelt, der Zusammenhalt Europas, die Migration und der demografische Wandel.
Die Demografie zum Beispiel taucht im Koalitionsvertrag fünf Mal auf, und jedes Mal liest man Floskeln wie „wir wollen den Auswirkungen des demografischen Wandels entgegenwirken“. Nur wie? Im Kapitel „Heimat mit Zukunft“ verknüpfen die Koalitionäre das Thema mit der „europäischen Armutszuwanderung“ und wollen, was sonst?, eine Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ einsetzen, die konkrete Vorschläge erarbeitet – bis Mitte 2019. Aufgeschoben ist aufgeschoben.
Apropos Kommission: Der Koalitionsvertrag ist voll davon, es gibt unter anderem die Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung, die Kommission Fluchtursachen, die Enquetekommission Stärkung der beruflichen Bildung zur Sicherung des Fachkräftebedarfs, die Rentenkommission, die Pflegemindestlohn-Kommission und, auch das darf nicht fehlen, die Kommission zur Entwicklung von Vorschlägen für ein modernes Vergütungssystem.
Und da wir gerade von Geld reden: Wegen des progressiven Steuerverlaufs geht schon bei geringeren Einkommen ein Großteil jedes zusätzlich verdienten Euro an den Staat. Doch statt diesen Mittelstandsbauch abzuschaffen, wollen die Koalitionäre stufenweise den Soli abbauen – erst ab 2021, versteht sich, und auch nicht für alle. Wer mit seinem Einkommen über einer bestimmten Freigrenze liegt, muss weiterhin von jedem zusätzlichen Euro rund 70 Cent an den Fiskus abführen. Das ist ökonomischer Irrsinn und hat, wie der Koalitionsvertrag, mit modern nichts zu tun.