Gewerkschaften haben ein Trittbrettfahrer-Problem
IG Metall, ver.di und Co. haben erhebliche Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu finden. Zwar wünschen sich die meisten Arbeitnehmer starke Gewerkschaften – sie sind aber nicht bereit, sich zu engagieren.
- Die Gewerkschaften in Deutschland finden kaum neue Mitglieder, nur 18,5 Prozent der Arbeitnehmer gehören ihnen noch an.
- Der Mitgliederschwund geht vor allem auf das Phänomen des Trittbrettfahrens zurück. Denn von den ausgehandelten Tarifverträgen profitieren nicht nur Gewerkschafter.
- Der Rückgang der Mitgliederzahlen schwächt die Position der Gewerkschaften in Verhandlungen mit Arbeitgeberverbänden. Das schadet allen tarifgebundenen Arbeitnehmern.
Die Gewerkschaften in Deutschland haben ein ernsthaftes Problem: Sie finden kaum noch neue Mitglieder. Gerade einmal 18,5 Prozent der deutschen Arbeitnehmer waren 2016 gewerkschaftlich organisiert. Der Organisationsgrad sinkt seit Jahren. Zum Vergleich: Vor der Wiedervereinigung hatten die Gewerkschaften noch die Rückendeckung von mehr als 30 Prozent aller Beschäftigten.
Bei drei Gruppen fällt es IG Metall, ver.di und Co. besonders schwer, neue Mitglieder zu gewinnen: jüngeren Arbeitnehmern, Migranten und Frauen. Je drei männlichen Gewerkschaftsmitgliedern stehen im Schnitt nur zwei Frauen gegenüber. Ähnlich überschaubar ist das Engagement der 18- bis 30-jährigen Arbeitnehmer.
Besonders niedrig sind die Mitgliederzahlen auch in den neuen Bundesländern (Grafik):
In Ostdeutschland gehörten im Jahr 2016 lediglich 13 Prozent der Arbeitnehmer einer Gewerkschaft an.
Der Mitgliederschwund geht vor allem auf das Phänomen des Trittbrettfahrens zurück, unter dem alle Gewerkschaften leiden. Wenn sie Tarifverträge aushandeln, profitieren davon nämlich alle Mitarbeiter, die nach Tarif bezahlt werden, und nicht nur diejenigen, die bereit sind, jeden Monat 1 Prozent ihres Bruttoeinkommens an eine Gewerkschaft zu überweisen. Aktuell wird mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland nach Tarif bezahlt.
Die rückläufige Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften schadet allen Arbeitnehmern, die nach Tarif bezahlt werden.
Die Entwicklung ist für die Gewerkschaften in mehrfacher Hinsicht gefährlich. Zwar haben sie grundsätzlich noch genug Mitglieder, um weiter bestehen zu können. Allerdings sind unter ihnen viele Rentner, Studenten und Schüler.
Wenn nun die Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden an einem Tisch sitzen, ist ihre Position geschwächt, schließlich sprechen sie nur für eine Minderheit der Mitarbeiter. Die rückläufige Entwicklung der Mitgliederzahlen schadet also allen Arbeitnehmern, die noch nach Tarif bezahlt werden.
Die schwindenden Mitgliederzahlen erwecken den Eindruck, dass Arbeitnehmer kein großes Interesse mehr an der Gewerkschaftsarbeit haben. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall:
Laut der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften aus dem Jahr 2016 sind rund 70 Prozent der Arbeitnehmer der Ansicht, dass sie starke Gewerkschaften brauchen.