Europäische Sicherheitspolitik Lesezeit 6 Min.

Interview: „Wir müssen die Lücken in der europäischen Verteidigung gemeinsam schließen“

Der Ukraine-Krieg hat zu einem Umdenken in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geführt. Wie gut die EU-Streitkräfte aufgestellt sind und warum die gemeinsame Beschaffung von Waffen und Munition vorteilhaft sein kann, erklärt André Denk, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA).

Kernaussagen in Kürze:
  • „Die jahrzehntelange Unterfinanzierung der europäischen Streitkräfte hat signifikante Spuren hinterlassen", sagt André Denk, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA).
  • Deswegen hält Denk ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, wie es Deutschland für die Verteidigung zur Verfügung gestellt hat, für sinnvoll.
  • „Es ist völlig richtig, jetzt kurzfristig Geld zu investieren, damit die Streitkräfte abschrecken und im Notfall kampfkräftig agieren können. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern für ganz Europa“, so Denk.
Zur detaillierten Fassung

Herr Denk, brauchen wir angesichts der akuten russischen Bedrohung eine europäische Armee?

Die Streitkräfte der NATO und der Europäischen Union bereiten sich aufgrund der Geschehnisse in der Ukraine auf ein Worst-Case-Szenario vor, um dieser sehr konkreten Bedrohung im äußersten Notfall auch begegnen zu können. Eine europäische Armee steht im Moment aus meiner Sicht nicht zur Diskussion, sondern es geht darum, die Streitkräfte der EU-Mitgliedsstaaten so zu stärken, dass sie gemeinsam – vor allem auch im Rahmen der NATO – eine Landes- und Bündnisverteidigung organisieren können, die abschreckt und im äußersten Notfall auch wirklich effektiv ist.

Was braucht es dafür?

Es ändert sich derzeit sehr viel. So hat die EU erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Sicherheit und Verteidigung innerhalb der Mitgliedsstaaten zu stärken. Die Europäische Verteidigungsagentur ist ein hervorragendes Beispiel, wie gemeinsame Projekte aufgesetzt und durchgeführt werden können. Ein anderes Beispiel ist die jüngst veröffentlichte European Defence Investment Strategy, die die europäische Rüstungsindustrie nachhaltig stärken soll.

Welche Rolle spielt die EDA bei diesen Bemühungen?

Die Europäische Verteidigungsagentur ist eine kleine, aber agile Agentur mit rund 250 Beschäftigten, die in erster Linie die Mitgliedsstaaten dabei unterstützt, die Verteidigungsfähigkeit zu verbessern, Fähigkeitslücken zu identifizieren und zu priorisieren, um diese Lücken zu schließen. Wir bieten ein Kooperationsforum für die 27 Mitgliedsstaaten, bei dem die Staaten zusammenkommen können, um gemeinsame Projekte zu organisieren – von Forschungsvorhaben bis hin zur gemeinsamen Beschaffung.

Es ist völlig richtig, jetzt kurzfristig Geld zu investieren, damit die Streitkräfte abschrecken und im Notfall kampfkräftig agieren können.

Gesteuert werden wir in unserer Arbeit von den 27 Verteidigungsministerien. Die jeweiligen Minister treffen sich zweimal im Jahr zum Lenkungsausschuss. Auch die Rüstungs-, Forschungs- und Planungsdirektoren der Verteidigungsministerien treffen sich hier in Brüssel zweimal im Jahr, um all diese Aufgaben zu koordinieren, zu harmonisieren und uns Aufträge zu geben, damit wir im Sinne der 27 Mitgliedsstaaten handeln.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?

Wir haben einen Fähigkeitenentwicklungsplan mit 22 langfristigen Prioritäten etwa zu Transportfragen oder zu Cyberthemen definiert, der im vergangenen Jahr unter unserer Federführung mit den 27 Mitgliedsstaaten abgestimmt worden ist. Die jahrzehntelange Unterfinanzierung der europäischen Streitkräfte hat signifikante Spuren hinterlassen. Das lässt sich nicht so schnell auffangen. Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, wie es Deutschland nun für die Verteidigung zur Verfügung gestellt hat, ist absolut notwendig. Es ist völlig richtig, jetzt kurzfristig Geld zu investieren, damit die Streitkräfte abschrecken und im Notfall kampfkräftig agieren können. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern für ganz Europa.

André Denk ist stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA); Foto: EDA Wo bündeln Sie die EU-Verteidigungsaktivitäten noch?

Ein anderes Beispiel ist der Coordinated Annual Review on Defence, der alle zwei Jahre die Verteidigungslandschaft in Europa analysiert und mögliche gemeinsame Projekte identifiziert. Derzeit schlagen wir den Mitgliedsstaaten diese potenziellen gemeinsamen Projekte vor. Dazu zählen unter anderem die Harmonisierung von technischen Spezifikationen oder die Zusammenfassung der Bedarfe aller teilnehmenden Mitgliedsstaaten, das heißt eine Art Sammelbestellung und letztlich – dort, wo es möglich und geboten ist – die gemeinsame Beschaffung.

Gemeinsame Beschaffung findet ja schon statt: Sie haben im vergangenen Jahr 60 Rahmenverträge mit europäischen Rüstungsfirmen geschlossen mit dem Ziel, für 1 Milliarde Euro Artilleriemunition für die Ukraine zu beschaffen. Wie viel Munition wurde bislang eingekauft und an die Ukraine weitergeleitet?

Wir haben bislang einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag ausgegeben, rund 350 Millionen Euro. Dies ist jedoch nur ein Teil der Anstrengungen der EU. Insgesamt haben die Mitgliedsstaaten rund 600.000 Schuss an die Ukraine geliefert, bis Ende des Jahres werden es 1 Million Schuss sein. Bis zum Sommer wird die EU außerdem über ihre Ausbildungsmission 60.000 ukrainische Soldaten ausgebildet haben.

Ziehen die EU-Staaten in puncto Verteidigung immer an einem Strang?

Bei der gerade angesprochenen Munitionsbeschaffung für die Ukraine gab es eine breite politische Unterstützung der 27 Mitgliedsstaaten sowie Norwegens, das ja ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen hat. Alle diese Länder haben das entsprechende projektbegründende Dokument unterschrieben. Das ist unzweifelhaft ein Erfolg. Es gibt natürlich unterschiedliche nationale Positionen und übergeordnete politische Ambitionen, die berücksichtigt und austariert werden müssen.

Wie hat sich die Arbeit der Verteidigungsagentur seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs verändert?

Das Thema Verteidigung hat in der Europäischen Union unzweifelhaft deutlich an Relevanz gewonnen. Auch unsere tägliche Arbeit hat sich verändert. Eine gemeinsame Munitionsbeschaffung wäre bis vor einem Jahr nicht denkbar gewesen. Als Nicht-Beschaffungsagentur mit der Beschaffung von Munition beauftragt zu werden – das zeigt schon einen sehr starken politischen Willen der EU, hier konkrete Ergebnisse zu erzielen.

Was kosten die von Ihnen erarbeiteten Vorschläge einer gemeinsamen europäischen Verteidigung?

In Zahlen beziffern kann man das nicht, weil es nicht nur um Hardware wie Munition oder Waffen geht, sondern auch um weitere Fähigkeiten – zum Beispiel in der Ausbildung. Am Ende des Tages wird aber natürlich Hardware entscheidend sein – und hier nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität. Wenn es gelingen sollte, die derzeitigen Lücken in der europäischen Verteidigung gemeinsam zu schließen, dann sind Abschreckung und Verteidigung wirkungsvoll.

Wenige Kampfpanzertypen zu haben, ist wirtschaftlicher als eine große Bandbreite

Darüber hinaus kann man sicherlich auch bessere Preise erzielen und interoperabel werden. Zum Beispiel ist es auf jeden Fall besser, wenn wir nur wenige Kampfpanzertypen in den 27 Mitgliedsstaaten haben als eine große Bandbreite an verschiedenen Kampfpanzern. Wenn sich viele europäische Mitgliedsstaaten für ein Produkt entscheiden, ist das wirtschaftlicher, als wenn jeder seinem eigenen Vorhaben nachgeht.

Welche Auswirkungen wird die Europawahl auf die Europäische Verteidigungsagentur haben?

Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments spielt für die Agentur eine untergeordnete Rolle. Wird jedoch danach ein neuer Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik ernannt, ist das für die Agentur durchaus von Bedeutung, da er oder sie zugleich als „Head of the Agency“ auch mit der politischen Leitung der Agentur betraut sein wird.

Falls es künftig einen EU-Verteidigungskommissar geben sollte, würde das Ihre Arbeit schon verändern, oder nicht?

Das bleibt abzuwarten, denn es müsste ja zunächst einmal klar definiert werden, welche Aufgaben dieser Verteidigungskommissar hat und wie Verteidigung und Sicherheit künftig in der EU organisiert werden sollen.

Die Verteidigungsagentur könnte in einem Kommissariat für Verteidigung aufgehen ...

Letztlich ist das eine Entscheidung der Mitgliedsstaaten. Dieser Schritt würde aber eine Änderung des EU-Vertrags verlangen, in dem die Europäische Verteidigungsagentur ja mit einem intergovernmentalen Charakter verankert ist. Der Mehrwert der Agentur besteht darin, die EU-Mitgliedsstaaten zu unterstützen, hier in Brüssel zu vertreten und ein Kooperationsforum für diese 27 Staaten zu sein – und da sehen wir uns als EDA auch in der Zukunft.

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