Bildungsmonitor 2023 Lesezeit 6 Min.

Interview: „Die Bildungsschere hat sich weiter geöffnet“

Die Bildungsqualität in Deutschland hat in den vergangenen zehn Jahren abgenommen. Höchste Zeit zu handeln, fordern die beiden IW-Wissenschaftler und Bildungsmonitor-Autoren Christina Anger und Axel Plünnecke. Im iwd-Interview sprechen sie über die größten Probleme im Bildungssystem und wie die Politik es schafft, diese zu lösen.

Kernaussagen in Kürze:
  • Deutschland muss dringend seine Probleme im Bildungssystem lösen, fordern die beiden IW-Wissenschaftler und Bildungsmonitor-Autoren Christina Anger und Axel Plünnecke.
  • Für rund 10 Milliarden Euro ließen sich viele der vom IW empfohlenen Maßnahmen umsetzen, schätzt Plünnecke.
  • Einfach ziellos Geld ins Bildungssystem zu stecken, bringe jedoch wenig. Das Wichtigste sei eine zielgenaue Förderung. Hierfür wären Vergleichsarbeiten als Datengrundlage ein guter Weg.
Zur detaillierten Fassung

Sachsen, Bayern und Thüringen stehen wie schon in den Jahren zuvor im INSM-Bildungsmonitor ganz vorne. Was machen diese Bundesländer besser als andere?

Plünnecke: Alle drei Länder schneiden bei Vergleichsarbeiten vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen in der Grundschule und Sekundarstufe I gut ab. Darüber hinaus haben sie jeweils unterschiedliche Stärken: Bayern punktet in der beruflichen Bildung, Sachsen hat eine sehr gute Ganztagsinfrastruktur und geringe Bildungsarmut, Thüringen ist stark im Hochschulbereich und hat hohe Bildungsausgaben in Relation zu den sonstigen öffentlichen Ausgaben des Landes.

Alle drei haben aber auch ihre Schwächen. In Thüringen gehen bald viele Lehrkräfte in Ruhestand und müssen dann ersetzt werden. In Sachsen haben sich in den vergangenen Jahren die Betreuungsrelationen in den Schulen stark verschlechtert, es kommen auf jede Lehrkraft also wieder mehr Kinder. Und Bayern ist trotz Ausbau der Ganztagsinfrastruktur in dem Feld schwächer als der Bundesdurchschnitt.

Christina Anger ist Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung im IW, Axel Plünnecke ist Leiter des Clusters Bildung, Innovation, Migration im IW; Foto: IW Medien

Im Vergleich zu 2013 gab es in fast allen Bundesländern Rückschritte. Woran liegt das?

Anger: Das liegt vor allem an drei Punkten: Schulqualität, Vermeidung von Bildungsarmut und Integration. Diese Bereiche haben sich am stärksten verschlechtert. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist da die starke Zuwanderung der vergangenen Jahre. Es ist eine große Herausforderung, die Kinder, die nicht so gut Deutsch sprechen und zu Hause oft nicht so gut gefördert werden können, in das Schulsystem zu integrieren.

Zum anderen hat die Coronapandemie deutliche Spuren hinterlassen. Die Bildungsschere zwischen Schülerinnen und Schülern aus sozial starken und schwachen Haushalten hat sich weiter geöffnet, da die Kinder während den Schulschließungen zu Hause ganz unterschiedlich gefördert wurden. Gerade die Kinder, die in dieser Zeit viel Unterstützung gebraucht hätten, haben sie nicht erhalten. Die Auswirkungen sehen wir jetzt.

Wie kommt es, dass Brandenburg beim Punkt Integration am besten abschneidet, Berlin aber Vorletzter ist?

Plünnecke: In Brandenburg sind unter den Ausländern wenige Schulabbrecher und der Einfluss von sozialer Herkunft auf die Bildungsergebnisse ist weniger stark. Das kann damit zusammenhängen, dass sich in Berlin soziale Probleme viel stärker in einzelnen Vierteln ballen. Dies macht die soziale Durchlässigkeit noch mal schwieriger als in ländlichen Regionen, wo Personen mit besonderem Integrationsbedarf besser verteilt sind.

Insgesamt war Deutschland vor der Pandemie auf einem guten Weg, den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg zu reduzieren. Jetzt heißt es, dieses Problem durch gezielte Förderung wieder stärker anzugehen.

Das IW hat umfassende Handlungsempfehlungen aufgestellt, damit es im Bildungssystem wieder aufwärtsgeht. Ist es nicht utopisch, all dies umzusetzen?

Anger: Nicht utopisch, sondern dringend nötig! Langfristig lohnt es sich für den Staat, wenn mehr Personen mit besseren Bildungsabschlüssen auf den Arbeitsmarkt gelangen und so zur Fachkräftesicherung beitragen. Schließlich haben wir ein riesiges demografisches Problem. Da können wir es uns nicht leisten, dass 20 Prozent der Kinder nicht ausbildungsreif sind. Daraus resultieren auch hohe Sozialkosten und fehlende Steuereinnahmen für den Staat. Deshalb ist es so wichtig, gezielt zu unterstützen.

Für rund 10 Milliarden Euro im Jahr lassen sich viele Maßnahmen umsetzen.

Was kostet die Unterstützung?

Plünnecke: Für rund 10 Milliarden Euro im Jahr lassen sich viele Maßnahmen umsetzen und die Schülerinnen und Schüler gut fördern. So würde sich der Staat auch endlich dem vor rund zehn Jahren ausgerufenen Ziel, 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung auszugeben, nähern.

Sind die Probleme alle mit Geld zu lösen?

Plünnecke: Einfach pauschal die Ausgaben zu erhöhen und das Geld ziellos ins Bildungssystem zu stecken, bringt wenig. Das Wichtigste ist eine zielgenaue Förderung, man muss von vornherein wissen, wo die Mittel überhaupt gebraucht werden. Hierfür sind Vergleichsarbeiten als Datengrundlage ein guter Weg. So können gezielt Schulen finanziell unterstützt und dort Sprachförderung angeboten werden, wo die Bedarfe groß sind. In Hamburg funktioniert dieses Bildungscontrolling schon gut, die anderen Bundesländer sollten sich da etwas abschauen.

Mit mehr Vergleichsarbeiten könnten die Schulen zudem viel besser voneinander lernen. Wenn ich nur in der dritten Klasse eine Vergleichsarbeit schreibe, weiß ich ja nicht, wie groß oder klein der Lernerfolg ist. Es ergibt mehr Sinn, beispielsweise in der ersten und dritten Klasse Vergleichsarbeiten zu schreiben und für jede Schule zu ermitteln, wie die Kompetenzen derselben Klasse innerhalb von zwei Jahren gestiegen sind. So kann man sehen, ob es bestimmte Leuchtturmschulen gibt, die besonders gute Lernzuwächse erreichen. Und dann gilt es zu schauen, was diese Schulen anders machen und ob man das überall so umsetzen kann. Dieses Potenzial lassen wir in Deutschland noch komplett liegen. Man macht eine Vergleichsarbeit, weil man sie eben machen muss, und dann passiert nichts.

Das Wichtigste ist eine zielgenaue Förderung.

Wo sehen Sie die drängendsten Probleme?

Plünnecke: In den durch die Pandemie bedingten Lernlücken. Die Bundesländer versuchen zwar, diese zu schließen, aber viel zu ungenau. Wir hätten uns auch in dieser Hinsicht Vergleichsarbeiten gewünscht, sodass man zunächst feststellt, wo genau die Lücken sind. Daraufhin hätte man die Förderprogramme durchführen müssen – dann wäre es möglich gewesen, die Maßnahmen nach einem Jahr zu bewerten und die Programme entsprechend anzupassen.

Essenziell ist zudem, dass die Kinder wieder mehr lesen. Die Lesekompetenz ist die Startkompetenz, die jeder braucht, um alle anderen schulischen Kompetenzen zu entwickeln. Wenn ich kein gutes Textverständnis habe, kann ich auch keine Textaufgaben in Mathe lösen.

Anger: Auch die Sprachförderung ist sehr wichtig. Die sollte möglichst schon vor der Schule beginnen, so wie in Hamburg: Im Alter von viereinhalb Jahren wird getestet, wie gut die Kinder Deutsch sprechen. Wenn das nicht ausreicht, müssen sie mit fünf Jahren in eine Art Vorschule. Einfach, damit die Kinder, wenn es für sie in die Schule geht, alles verstehen und nicht schon beim Schulstart sofort abgehängt sind.

Ein großes Problem ist darüber hinaus der Lehrkräftemangel. Das ganze System steht und fällt mit guten Lehrerinnen und Lehrern in einer ausreichenden Zahl. Es muss viel mehr dafür geworben werden, sodass genug Menschen diesen Beruf ergreifen.

Haben Sie Hoffnung, dass Deutschland die Probleme lösen kann?

Anger: Sie müssen gelöst werden. Die Notwendigkeit eines stärkeren Bildungscontrollings und zielgenauer Förderung haben viele Bundesländer mittlerweile auf dem Schirm. Aber die Aufgabe ist natürlich nach wie vor sehr groß.

Plünnecke: Eine große Chance bietet die Digitalisierung. Digitale, intelligente Lernsoftware oder die Gamifizierung – also der gezielte Einsatz von spielerischen Elementen in spielfremden Umgebungen – sind gute Möglichkeiten, Kinder zum Lernen zu motivieren. Sie sehen ihre Fortschritte durch höhere Scores und erhalten ein motivierendes Feedback. Da ist noch viel Potenzial, das man zudem gut skalieren kann. Es muss sich nicht jeder Lehrer allein die bestmögliche Förderung überlegen, sondern Millionen von Kindern können gleichzeitig hochwertige digitale Lernangebote nutzen. Hier lohnt es sich, noch viel mehr Geld als bislang zu investieren.

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