Tarifpolitik Lesezeit 5 Min.

Interview: „Wir sollten mehr versuchen, die andere Seite zu verstehen“

Die Gewerkschaften auf der einen, die Arbeitgeber auf der anderen Seite – Konflikte programmiert? Warum viele Tarifverhandlungen zunehmend eskalieren, was dagegen helfen kann und wie die Zukunft der Tarifpolitik aussehen muss, diskutieren Stefan Schaumburg, Leiter des Funktionsbereichs Tarifpolitik der IG Metall, und Hagen Lesch, Leiter des Themenclusters Arbeitswelt und Tarifpolitik im Institut der deutschen Wirtschaft.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern waren im ersten Halbjahr 2023 von Konflikten geprägt. Warum, erläutern Stefan Schaumburg, Leiter des Funktionsbereichs Tarifpolitik der IG Metall, und Hagen Lesch, Leiter des Themenclusters Arbeitswelt und Tarifpolitik im IW.
  • Die beiden diskutieren zudem über Instrumente zur Deeskalation und die Zukunft der Tarifpolitik.
  • Schaumburg plädiert dafür, dass die Tarifparteien wieder mehr aufeinander zugehen und die wichtigen Zukunftsthemen gemeinsam und auf Augenhöhe besprechen.
Zur detaillierten Fassung

Herr Schaumburg, haben Sie sich über die Bahnstreiks geärgert?

Schaumburg: Als Kunde habe ich mich geärgert, so wie ich mich auch über Verspätungen und Zugausfälle im Regelbetrieb ärgere. Ich habe aber natürlich Verständnis für die Streikenden.

Das tarifpolitische Halbjahr 2023 war sehr konfliktintensiv. Eine Ausnahme oder in Zukunft die Regel?

Schaumburg: Es geht schon ruppiger zu. Die Situation ist zwar generell aufgrund der hohen Inflation schwieriger geworden, weil Forderungen und Angebote weiter auseinanderliegen als sonst. Ich nehme aber auch wahr, dass es immer länger dauert, bis die Arbeitgeber ein erstes Angebot vorlegen. Da herrscht in den ersten Verhandlungsrunden erst mal nur generelle Ablehnung. Für die Metallindustrie bekommen wir erst ein oder zwei Tage vor Ablauf der Friedenspflicht und damit kurz vor den Warnstreiks ein erstes Angebot und dann gleich die Beschwerde, dass die Leute vor den Toren stehen.

Stefan Schaumburg ist Leiter des Funktionsbereichs Tarifpolitik der IG Metall, Hagen Lesch ist Leiter des Themenclusters Arbeitswelt und Tarifpolitik im Institut der deutschen Wirtschaft; Fotos: Privat / IW Medien Lesch: Vor allem in den von ver.di vertretenen Tarifbereichen gibt es eine recht hohe Konfliktbereitschaft. Die Gewerkschaft treibt die Streiks öffentlichkeitswirksam voran und hat 2023 bereits rund 100.000 neue Mitglieder gewonnen. Meine Sorge ist, dass das auf andere Gewerkschaften überspringen kann. Diese Strategie in Kombination mit der Inflation führt wahrscheinlich dazu, dass die aktuelle Konfliktneigung in den kommenden Jahren anhält.

Schaumburg: Wir gewinnen auch Mitglieder dazu. Allerdings eher zu Beginn einer Tarifbewegung, wenn wir unsere Forderungen aufstellen und begründen, und nicht in der Streikphase. Das hat sich nicht verändert und ich glaube auch nicht, dass das in Zukunft anders sein wird.

Was kann zur Deeskalation beitragen?

Lesch: Zum Beispiel die Inflationsausgleichsprämie. Man kann zwar nicht messen, inwieweit diese noch stärkere Konflikte verhindert hat, aber das Gefühl habe ich schon. Die Prämie kann auch im nächsten Jahr noch genutzt werden. Die Reallohnverluste zwingen die Gewerkschaften aber wahrscheinlich über mehrere Jahre hinweg, recht offensiv in die Tarifverhandlungen zu gehen. Da braucht es möglicherweise noch ein ähnliches Kompromissinstrument, das die Tarifabschlüsse erleichtert.

In manchen Branchen laufen die Tarifverhandlungen fast geräuschlos und schnell ab, in anderen eskalieren sie über mehrere Monate. Woran liegt das?

Lesch: Das ist empirisch schwierig zu untersuchen. Oft liegt es einfach daran, wie die individuellen Verhandlungspartner ticken, wie ihre Rhetorik und ihre Verhandlungsstrategien sind. In den Branchen herrschen auch unterschiedliche Arten von Selbstverständnis, wie weit man gehen kann. Die Gewerkschaften können da Opfer der eigenen Erwartung werden. Wenn man extrem ambitionierte Forderungen aufstellt, muss man im Verlauf der Verhandlungen schauen, wie man einen etwaigen Kompromiss gegenüber seinen Mitgliedern legitimiert oder ob man weiter versucht, aufs Ganze zu gehen, und den Konflikt eskalieren lässt.

Schaumburg: Das unterschiedliche Verständnis ergibt sich auch daraus, welche Strategien in der Vergangenheit funktioniert haben und welche nicht. Wird zum Beispiel auf Arbeitgeberseite der Flächentarifvertrag als Basis gesehen, auf der man zwischen den Unternehmen Wettbewerb strukturieren kann, oder nur als Friedensvertrag auf Zeit oder gar als Hindernis? Daraus ergeben sich unterschiedliche Arten der Verhandlungsführung.

Differenzierte Tarifabschlüsse für viele Arbeitsbereiche in einer Branche sind das A und O.

Die Bahn muss Tarifverträge jeweils mit zwei Gewerkschaften verhandeln, teilweise für dieselben Berufsgruppen. Ähnlich zersplitterte Verhältnisse gibt es in Krankenhäusern, im öffentlichen Dienst oder in der Luftfahrt. Ist das Tarifeinheitsgesetz gescheitert?

Schaumburg: Diese Zersplitterung muss man sehr ernst nehmen. Die Tarifverträge sollten deswegen möglichst viele Gruppen einbinden, um eben nicht in die Gefahr zu geraten, dass kleine Gruppen von Beschäftigten – wie berechtigt deren Interessen auch sein mögen – den ganzen Laden anhalten können. Wenn zum Beispiel die Werkfeuerwehr streikt, darf nicht produziert werden und die ganze Fabrik steht still. Differenzierte Tarifabschlüsse für viele Arbeitsbereiche in einer Branche sind also das A und O.

Lesch: Gescheitert ist das Tarifeinheitsgesetz aus meiner Sicht trotzdem nicht. Es hat immerhin verhindert, dass immer neue Gewerkschaften aus dem Boden schießen. Dass sie kleinteiliger werden, kann für Gewerkschaften durchaus ein guter Weg sein, um an Mitgliederstärke zu gewinnen – Stichwort Individualisierung und Diversifizierung von Mitgliedschaft. Das Problem ist dann allerdings, dass es Gewerkschaften nicht gelingt, sich auf Tarifgemeinschaften zu einigen. Wir sehen das gerade bei der Deutschen Bahn.

Im zweiten Halbjahr stehen unter anderem die Tarifverhandlungen für die Eisen- und Stahlindustrie an. Wie heftig werden die Konflikte?

Schaumburg: Die Konflikte in der Branche sehen für Unbeteiligte oft heftiger aus, als sie in Wirklichkeit sind. Uns sind ja auch durch die Rahmenbedingungen Grenzen gesetzt. Man kann ein Stahlwerk nicht einfach anhalten und weggehen – das wissen beide Seiten und werden deshalb verantwortungsvoll handeln.

Klar, die Verhandlungen werden laut. Ich glaube aber, dass es so viele andere Baustellen wie die Transformation oder den Strompreis gibt, dass wir relativ zügig eine Lösung finden werden. Keiner ist daran interessiert, der Branche nachhaltigen Schaden zuzufügen.

Verhärten sich aus Ihrer Sicht generell die Fronten zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in Deutschland?

Lesch: Mein Eindruck ist, dass die verhandelnden Personen meistens vertrauensvoll miteinander umgehen können. Dennoch beobachten wir viele Eskalationen, die aus meiner Sicht nicht immer sein müssten. Die Frage ist auch, wie sich die Akteure als Organisationen legitimieren. Die Gewerkschaften haben riesige Rekrutierungsdefizite und gleichzeitig gibt es bei vielen jungen Unternehmen wenig Bereitschaft, die Tarifbindung einzugehen. Da muss man über neue Wege in der Tarifpolitik nachdenken. Sonst nimmt man in Kauf, dass der Gesetzgeber in diese Bereiche reinregiert.

Wir sollten die wichtigen Zukunftsthemen gemeinsam und auf Augenhöhe besprechen.

Schaumburg: Wir kommen schon so klar, wie es jetzt läuft. Die spannende Frage ist, ob die Tarifparteien für die zukunftsrelevanten Themen wie die Transformation tarifpolitische Lösungen finden. Mir fehlt da die vorwärtsgerichtete Debatte. Ich sehe aktuell keine Entwicklung nach vorne, keine neuen Ideen. Es gibt ein paar Schwächen im System und ich glaube, diese könnte man gemeinsam angehen.

Wir alle sollten wieder mehr versuchen, die andere Seite zu verstehen. Da ist ein bisschen was verloren gegangen, ich nehme weniger gegenseitiges Interesse war. Wir sollten die wichtigen Zukunftsthemen gemeinsam und auf Augenhöhe besprechen.

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