Tarifpolitik Lesezeit 3 Min.

Staat sollte Tarifbindung nicht erzwingen

Schon seit einigen Jahrzehnten nimmt der Anteil der tarifgebundenen Betriebe und damit der Anteil der nach Tarif bezahlten Beschäftigten in Deutschland ab. Die Diskussion darüber, ob und wie der Staat auf diese Entwicklung reagieren sollte, fügt sich in eine langjährige Reihe von Debatten zur Legitimität der Tarifautonomie. Die grundlegende Erkenntnis bleibt allerdings immer wieder dieselbe.

Kernaussagen in Kürze:
  • Schon seit den 1990er Jahren sinkt der Anteil der Beschäftigten, die in tarifgebundenen Betrieben arbeiten, sowie der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer.
  • Die Politik will die Tarifbindung stabilisieren, setzt dabei allerdings auf Zwang und will in die Kompetenzen der Tarifparteien eingreifen.
  • Stattdessen sollte sich die Bundesregierung darauf beschränken, negative Anreize für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder in einem Arbeitgeberverband zu beseitigen.
Zur detaillierten Fassung

Am 15. November 1918 schlossen Arbeitgeber und Gewerkschaften das Stinnes-Legien-Abkommen – benannt nach den Verhandlungsführern, dem Industriellen Hugo Stinnes und dem Gewerkschaftsvorsitzenden Carl Legien. Mit dem Abkommen räumten sich die Tarifvertragsparteien selbst einen autonomen Status ein, der anschließend durch den Staat bestätigt wurde.

Seither wurde in Deutschland immer wieder über die Legitimität der Tarifautonomie diskutiert. Dabei geht es um die Frage, ob diese den sozialen Ausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen herstellt, dem Gemeinwohl dient und mit den gesamtwirtschaftlichen Zielen der jeweiligen Bundesregierung kompatibel ist.

Während in Westdeutschland im Jahr 1996 noch 80 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeiteten, waren es 2020 nur noch 53 Prozent – in Ostdeutschland sank der Anteil von 73 auf 43 Prozent.

In jüngerer Zeit hat vor allem die rückläufige Tarifbindung zu Kontroversen geführt. Der Abwärtstrend ist dabei keineswegs neu (Grafik):

Während in Westdeutschland im Jahr 1996 noch 80 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeiteten, waren es 2020 nur noch 53 Prozent – in Ostdeutschland sank der Anteil von 73 auf 43 Prozent.

So viel Prozent der Beschäftigten arbeiteten in tarifgebundenen Betrieben und so viel Prozent der Betriebe waren tarifgebunden Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Von den westdeutschen Betrieben unterliegen mittlerweile gerade einmal 28 Prozent einem Branchen- oder Haustarifvertrag, im Osten sind es lediglich etwa 20 Prozent. Noch stärker sind die Gewerkschaften geschrumpft (Grafik):

Im Jahr 1991 waren knapp 13,8 Millionen Menschen in Deutschland Mitglied einer der großen Gewerkschaften – bis 2020 hat sich die Zahl nahezu halbiert.

Mitglieder der Gewerkschaften in Deutschland in Millionen Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Der Brutto-Organisationsgrad, also der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern, sank im selben Zeitraum von 39 auf nur noch gut 18 Prozent.

Je weniger Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert sind, desto weniger haben prinzipiell Anspruch auf einen Tariflohn. Dieser Zusammenhang wird allerdings durch die gängige Praxis abgeschwächt, dass ein tarifgebundener Arbeitgeber nicht zwischen gewerkschaftlich Organisierten und Nichtorganisierten unterscheidet – das erklärt, warum die Tarifbindung der Beschäftigten ungefähr dreimal so hoch ist wie ihr Organisationsgrad.

Politik wählt falschen Ansatzpunkt

Die Politik hat wiederholt vergeblich versucht, den Abwärtstrend in Sachen Tarifbindung aufzuhalten. So hat die damalige Bundesregierung mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz von 2014 nicht nur den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt, sondern unter anderem auch geregelt, dass Tarifverträge in einer Branche schon dann für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn ein „konkretisiertes öffentliches Interesse“ besteht.

Das Problem ist, dass die von der Bundesregierung gewählten Instrumente nicht an der eigentlichen Ursache der rückläufigen Tarifbindung ansetzen, nämlich der Fähigkeit der Tarifvertragsparteien, ihre Mitgliederbasis zu stärken.

Der Faktor Strukturwandel

Bei den Betrieben liegt eine wesentliche Ursache für die rückläufige Tarifbindung darin, dass sich im Zuge des Strukturwandels neu entstehende Unternehmen – beispielsweise junge IT- und Medienfirmen – nicht an einen Tarif binden wollen. Zudem steigen Betriebe aus der Tarifbindung aus, weil sie die tariflichen Regelungen als unpassend oder zu stark einengend empfinden.

Der Mitgliederschwund der Gewerkschaften hängt ebenfalls mit dem Strukturwandel zusammen: Gerade in den 1990er Jahren verloren Gewerkschaftsdomänen wie die Schwerindustrie an Bedeutung. Dagegen konnten die Gewerkschaften in den wachsenden Dienstleistungssektoren schlechter Fuß fassen.

Dessen ungeachtet setzt die amtierende Bundesregierung erneut darauf, in die Kompetenzen der Tarifvertragsparteien einzugreifen. Der Koalitionsvertrag sieht vor, die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrags zu binden. Doch wenn der Staat die Tarifgeltung auf diese Weise ausweitet, beschleunigt er die Erosion der Tarifautonomie, weil dadurch für die vom Tarifvertrag erfassten Arbeitnehmer jeglicher Anreiz entfällt, in eine Gewerkschaft einzutreten.

Anreize für Verbandsmitgliedschaft stärken, Nachbindung abschaffen

Die Politik sollte sich stattdessen darauf beschränken, negative Anreize für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband zu beseitigen. So wäre es sinnvoll, wenn Gewerkschafter ihre Mitgliedsbeiträge leichter von der Einkommensteuer absetzen könnten. Alternativ könnte der Staat für Beschäftigte, die nicht Mitglied einer Gewerkschaft sind, aber von einem Tarifvertrag profitieren, Solidaritätsbeiträge einführen.

Um die Bereitschaft der Betriebe zu einer Tarifbindung zu erhöhen, sollte die im Tarifvertragsgesetz vorgeschriebene Nachbindung entfallen. Sie legt fest, dass laufende Tarifverträge in einem Unternehmen selbst dann noch gelten, wenn es aus einem Arbeitgeberverband austritt. Das wirkt vor allem bei Manteltarifverträgen, in denen Arbeitszeiten, Zuschläge oder Sonderzahlungen geregelt werden, wie eine Fessel und führt dazu, dass sich insbesondere neu gegründete Firmen von vornherein nicht tariflich binden wollen.

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