Sozialsysteme: Wünsche statt Lösungen
Der demografische Wandel schlägt in den Sozialversicherungen ab jetzt voll durch. Doch anstatt substanzielle Änderungen anzugehen, versuchen die Parteien irgendwie, den Status quo aufrechtzuhalten. Das kann nicht funktionieren.
- In den Wahlprogrammen der etablierten Parteien zur Bundestagswahl 2025 finden sich eher Wunschvorstellungen als konkrete Problemlösungen für die Sozialsysteme.
- Die fehlenden Reformen werden zu weiter steigenden Beiträgen führen. Das hat mittel- bis langfristig negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft.
- Deutschland braucht dringend mehr Ausgabendisziplin. Dazu gehören vor allem Begrenzungen und Einschnitte in das Leistungsversprechen der Sozialversicherungssysteme.
Millionen von Arbeitnehmern in Deutschland haben Ende 2024 Post von ihrer Krankenkasse bekommen. Darin enthalten: die Ankündigung für steigende Zusatzbeiträge im Jahr 2025. Das könnte in Zukunft regelmäßig der Fall sein, denn der demografische Wandel macht sich inzwischen deutlich bemerkbar:
Mehr Ruheständler und das Altern der geburtenstarken Jahrgänge belasten die Sozialsysteme erheblich, da sowohl mehr Geld für die Rentenempfänger als auch mehr Ausgaben für die Behandlung und Versorgung der Alten nötig sind. Zusammen mit der Tatsache, dass demnächst geburtenschwächere Jahrgänge in den Arbeitsmarkt eintreten, ergibt sich bei konstanten Beitragssätzen automatisch eine Unterfinanzierung.
Die Politik hat das lange bekannte Problem über Jahrzehnte vor sich hergeschoben und ist vor weitreichenden Reformen zurückgeschreckt. Ein Umdenken ist bislang nicht erkennbar:
In den Wahlprogrammen der etablierten Parteien zur Bundestagswahl 2025 finden sich eher Wunschvorstellungen statt konkreter Problemlösungen für die Sozialsysteme.
So wollen Politiker unterschiedlicher Parteien die Beitragssätze für Kranken-, Arbeitslosen-, Pflege- und Rentenversicherung insgesamt bei rund 40 Prozent des Bruttoeinkommens halten. In diesem Jahr beträgt die durchschnittliche Abgabe 41,9 Prozent.
Gleichzeitig versprechen sie ein stabiles Rentenniveau und ein weiterhin umfangreiches Leistungsportfolio in der Krankenversicherung sowie eine ausgeweitete Unterstützung in der Pflege. Dass diese Rechnung nicht aufgehen kann, sollte allen klar sein.
Deutschland braucht mehr Ausgabendisziplin. Dazu gehören vor allem Begrenzungen und Einschnitte in das Leistungsversprechen der Sozialversicherungssysteme.
Die fehlenden Reformen und Einschnitte werden zu weiter steigenden Beiträgen führen. Wie sich das mittel- bis langfristig auf die deutsche Wirtschaft auswirkt, hat das IW mithilfe des Modells von Oxford Economics simuliert (Grafik):
Das Bruttoinlandsprodukt wird im Jahr 2029 bei weiter steigenden Sozialabgaben um 0,5 Prozent niedriger liegen als bei konstanten.
Den größten negativen Einfluss hätten höhere Beiträge auf die verfügbaren Einkommen und auf den privaten Konsum. Aber auch die privaten Investitionen würden deutlich zurückgehen.
Um kurzfristig die Systeme zu stützen, debattiert die Politik unter anderem über höhere Beitragsbemessungsgrenzen. Konkret sollen die Grenzen, bis zu denen das Einkommen beitragspflichtig ist, in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung auf das Niveau der Rentenversicherung steigen. Dadurch käme mehr Geld in die Kassen (Grafik):
Eine höhere Beitragsbemessungsgrenze würde knapp 23 Milliarden Euro Mehreinnahmen für die Sozialsysteme bedeuten.
Für gesetzlich Versicherte mit einem Bruttoeinkommen oberhalb der bisherigen Berechnungsgrenze würde das im Schnitt 3.646 Euro pro Jahr zusätzlich kosten.
Dabei müssten sowohl die Beschäftigten als auch die Unternehmen ordentlich drauflegen. Denn aufgrund der paritätischen Aufteilung der Beitragssätze zahlen die Arbeitgeber die Hälfte der zusätzlich fälligen Sozialabgaben. Zudem wäre die Anhebung der Bemessungsgrenze nur ein Tropfen auf den heißen Stein, da die zusätzlichen Einnahmen unterm Strich gerade einmal die Kostensteigerungen von diesem Jahr decken könnten.
Politik muss dringend handeln
Es ist daher an der Zeit, dass sich die Politik nicht weiter an der Quadratur des Kreises versucht, sondern den Herausforderungen entsprechend handelt:
In erster Linie braucht Deutschland mehr Ausgabendisziplin. Dazu gehören vor allem Begrenzungen und Einschnitte in das Leistungsversprechen der Sozialversicherungssysteme.
In der gesetzlichen Alterssicherung muss die regelgebundene Rentenanpassung beibehalten werden, auch wenn damit das Sicherungsniveau sukzessive sinkt. Langfristig führt kein Weg an einer längeren Lebensarbeitszeit vorbei, um mehr Beiträge in die Kasse zu spülen. Kurzfristig sollte die neue Regierung die bestehenden Optionen und Anreize für einen vorzeitigen Renteneintritt abschaffen.
In der Kranken- und in der Pflegeversicherung muss zudem stärker das Motto gelten: Nur was bei beschäftigungsverträglichen Beitragssätzen eingenommen wird, kann auch ausgegeben werden. Das impliziert, dass gewisse Leistungen künftig privat finanziert werden müssen.