Niedriglohnsektor als Sprungbrett des Arbeitsmarktes
Rund jeder achte Bundesbürger im Erwerbsalter war im Jahr 2021 zu einem Niedriglohn beschäftigt. Der Sektor hat bisweilen einen schlechten Ruf – dabei spielt er vor allem für Arbeitsuchende und für den sozialen Aufstieg eine wichtige Rolle.
- Knapp 13 Prozent der 15- bis 64-Jährigen in Deutschland waren im Jahr 2021 Geringverdiener – demgegenüber galten annähernd 55 Prozent als Normalverdiener.
- Vor allem für Arbeitsuchende und für den sozialen Aufstieg spielt der Niedriglohnsektor eine wichtige Rolle.
- Politische Maßnahmen, die den Niedriglohnsektor begrenzen sollen, könnten demnach die Aufstiegschancen in höhere Lohnbereiche verbauen sowie Arbeitsuchenden den Eintritt in den Arbeitsmarkt erschweren.
„Geringverdiener“ – was sich zunächst einmal etwas abwertend anhört, beschreibt aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive lediglich eine bestimmte Personengruppe auf dem Arbeitsmarkt. Als solcher gilt üblicherweise, wer weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns von abhängig Beschäftigten im Haupterwerb bekommt. Im Jahr 2021 – neuere Daten sind nicht verfügbar – lag diese Grenze in Deutschland bei 12,31 Euro. Zur Erinnerung: Der damalige Mindestlohn betrug 9,60 Euro. Viele Geringverdiener lagen also um mehrere Euro pro Stunde darüber. Insgesamt machten sie nur einen kleinen Anteil an der Bevölkerung im Erwerbsalter aus (Grafik):
Knapp 13 Prozent der 15- bis 64-Jährigen in Deutschland waren im Jahr 2021 Geringverdiener – demgegenüber standen annähernd 55 Prozent, die als Normalverdiener galten.
Interessant ist dabei vor allem der zeitliche Verlauf. Der Anteil der Beschäftigten unter der Niedriglohngrenze wuchs von 1997 bis 2006 um fast 40 Prozent, während jener der Normalverdiener leicht abnahm – per saldo stiegen also Beschäftigte in der Lohnleiter ab. Damit fiel das Gros des Anstiegs in die Zeit vor der Hartz-IV-Reform, die im Januar 2005 in Kraft trat. Entgegen der häufigen Behauptung war diese also kein Auslöser für einen ausgeweiteten Niedriglohnsektor.
Zwar nahm dieser anschließend zwischen 2006 und 2013 weiter zu. Diesmal war der Effekt allerdings ein positiver, denn die darin Beschäftigten kamen hauptsächlich aus dem Kreis der vorher auf dem Arbeitsmarkt Inaktiven – schließlich legte auch die Gruppe der Normalverdiener in diesem Zeitraum zu. Seit 2013 geht der Anteil der Niedriglohnbezieher sogar leicht zurück, jener der Normalverdiener legt weiter zu. Es steigen unterm Strich also mehr Menschen in höhere Lohnklassen auf, als von dort absteigen.
Der Niedriglohnsektor spielt für Arbeitsuchende und für den sozialen Aufstieg eine wichtige Rolle.
Trotz dieser erfreulichen Entwicklung haftet dem Niedriglohnsektor in der öffentlichen Wahrnehmung bisweilen der Ruf eines sozialen Problems an, das es zu bekämpfen gilt. Dabei ist er für viele Arbeitsuchende eine willkommene Chance. Rund ein Fünftel aller Niedriglohnbeschäftigten im Jahr 2021 war fünf Jahre zuvor auf dem Arbeitsmarkt inaktiv. Blickt man lediglich ein Jahr zurück, galt dies für rund 11 Prozent von ihnen. Vor allem auf längere Sicht hilft der Sektor also beim (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt und dem Verbleib darin. Zudem kann auch eine gering entlohnte Beschäftigung die soziale Lage verbessern: So sank die Armutsgefährdungsquote für vorher auf dem Arbeitsmarkt inaktive Personen, die zwischen 2019 und 2021 neu in die Niedriglohnbeschäftigung eintraten, von 61 auf 39 Prozent.
Hinzu kommt, dass viele im Niedriglohnsektor Beschäftigte nicht lange dort verharren, sondern in höhere Lohnbereiche aufsteigen (Grafik):
Bereits nach einem Jahr schaffte ein Drittel der Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren, die zwischen 2010 und 2020 neu einen Job mit geringem Lohn in Deutschland aufnahmen, den Aufstieg zum Normalverdiener.
Der Anteil der Aufsteiger nahm mit jedem weiteren Jahr zu. Fünf Jahre nach Beginn der gering vergüteten Tätigkeit waren bereits gut 44 Prozent in einem höheren Lohnsegment beschäftigt, während nur noch rund 29 Prozent im Niedriglohnsektor arbeiteten.
Unterstützung statt Bürokratie
Die Aufstiegschancen hängen dabei von verschiedenen Faktoren ab. Wenig überraschend nehmen diese Chancen mit einem höheren Bildungsabschluss zu. Zudem steigen sie mit der Berufserfahrung je Lebensjahr sowie mit der Betriebsgröße, da größere Unternehmen meist unterschiedliche Karrierepfade eröffnen und breitere Entwicklungsmöglichkeiten bieten können. Keine Rolle spielt dagegen, ob die Beschäftigten in Voll- oder in Teilzeit arbeiten oder ob ihr Vertrag befristet ist.
Generell ist die Chance des Aufstiegs aus dem Niedriglohnsektor in Westdeutschland höher als in Ostdeutschland, was vor allem am insgesamt höheren Lohnniveau im Westen liegt.
Politische Maßnahmen, die den Niedriglohnsektor begrenzen sollen, könnten demnach kontraproduktiv sein und die Aufstiegschancen in höhere Lohnbereiche verbauen sowie Arbeitsuchenden den Eintritt in den Arbeitsmarkt erschweren – am Ende wären weniger statt mehr Menschen in Deutschland beschäftigt. Anstelle weiterer bürokratischer Vorgaben wäre es sinnvoller, direkt bei den Menschen anzusetzen und ihren Aufstieg im Arbeitsmarkt zu unterstützen, beispielsweise durch die stärkere Förderung von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen.