Interview: „Wir müssen in Deutschland auf Wachstum setzen“
Im Februar wird Deutschland einen neuen Bundestag wählen. Über die Themen, die danach besonders drängen, und über die Ergebnisse der jüngsten IW-Verbandsumfrage sprach der iwd mit Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft.
- IW-Direktor Michael Hüther sieht aktuell drei große Themen, mit denen sich die künftige Bundesregierung beschäftigen muss: die Veränderung der geopolitischen Lage, der demografische Wandel sowie die Transformation hin zur Klimaneutralität.
- Hüther hat nicht den Eindruck, dass die Parteien die Ernsthaftigkeit der Lage verstanden haben. Er plädiert für einen Infrastrukturhaushalt als Sonderhaushalt, der es ermöglicht, die dringend benötigten Investitionen über Kredite zu finanzieren.
- „Wir müssen auf Wachstum setzen, wenn wir unsere Probleme der Alterung und der Transformation bewältigen wollen", so der IW-Direktor.
Ende 2024 haben 31 der 49 Verbände, die an der jüngsten IW-Verbandsumfrage teilgenommen haben, gesagt, die Lage in ihrem Wirtschaftsbereich sei schlechter als vor einem Jahr. Ist die vorgezogene Bundestagswahl vorteilhaft oder eher nachteilig, wenn es darum geht, die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland zu lösen?
Eine Bundestagswahl heißt erst mal Stillstand. Insofern ist es gut, dass zuletzt noch Entscheidungen getroffen wurden – beispielsweise mit Blick auf den Abbau der kalten Progression.
Aber natürlich wird es dauern, bis wir eine neue Bundesregierung haben, die dann der Wirtschaft neue Impulse geben kann. Aktuell sehen wir in den Daten kein Wachstum – im Gegenteil. Da sehen wir, dass sich die Stagnation im dritten Jahr in Folge fortsetzt: Wir kommen einfach nicht von der Stelle und haben eine massive Investitionsschwäche.
Sie waren mit der Regierung Scholz im Austausch. War der Dialog zu Anfang der Legislaturperiode ein anderer als in den vergangenen Monaten?
Bei einer Klausurtagung im Mai 2022 hatten wir weit über zwei Stunden eine offene Diskussion. Das war sehr gut, durch die Sache getrieben – anders als unter Merkel, wo das nicht gewünscht war.
Die Regierung hat schon im Sommer 2023 den Faden verloren.
Aber die Regierung selbst hat schon im Sommer 2023 den Faden verloren, als sie sich beim Heizungsgesetz verhakt hat. Statt den Entwurf als Grundlage zu nehmen und daraus gemeinsam etwas zu entwickeln, hat jede Partei ihr Süppchen gekocht.
Hinzu kam das Urteil des Verfassungsgerichts Ende 2023, das den zweiten Nachtragshaushalt 2021 für verfassungswidrig erklärt hat. Darauf hat man keine Antwort in einem neuen Koalitionsvertrag gefunden, sondern versucht, einfach weiterzumachen.
So viele Wähler wie nie sind mit den etablierten Parteien unzufrieden, von denen wiederum will keine mit der AfD koalieren. Welche Optionen gibt es, die nach der Bundestagswahl kein politisches „Weiter so“ bedeuten?
Die Frage ist ja, was sich in den Wahlprogrammen an Erbaulichem findet. Denn eine Schnittmenge daraus wird am Ende im Koalitionsvertrag stehen. Und ich habe leider nicht den Eindruck, dass die Parteien bei den drei großen Themen, die im Raum stehen, die Ernsthaftigkeit der Lage verstanden haben.
Wir haben erstens die Veränderung der geopolitischen Lage und den Importdruck aus China im Außenhandel – auch, weil China nicht mehr so viel in die USA exportieren kann und massive Überkapazitäten hat. Das muss durch Wettbewerbsfähigkeit unsererseits beantwortet werden. Dafür gilt es, Deutschland und Europa zusammenzudenken. Da geht es also um die europäische Positionierung – und die deutsche Innovationskraft.
Das zweite Thema ist der demografische Wandel. Den erleben wir aktuell – 60 Jahre nach dem Pillenknick – so stark wie nie. Es fehlen Menschen im erwerbsfähigen Alter, es fehlt Wertschöpfung und es fehlen Steuereinnahmen. Die Antworten darauf sind nicht nur kommod. Natürlich ist Zuwanderung wichtig. Die gesteuerte, tatsächliche Zuwanderung ist nah an den Zielen des Landes, aber wir haben eben nicht nur diese Form der Zuwanderung, sondern auch die Fluchtmigration. Wir müssen die Integration von Geflüchteten massiv verbessern.
Ein zentraler Faktor ist aber auch die Arbeitszeit – ein Vollzeiterwerbstätiger arbeitet hierzulande pro Jahr im Schnitt 249 Stunden weniger als einer in der Schweiz. Ein weiterer Aspekt ist die Produktivität, da tun wir uns schwer mit Rationalisierung, Automatisierung und digitalen Geschäftsmodellen.
Wir müssen die Integration von Geflüchteten massiv verbessern.
Das dritte Thema ist die Transformation hin zur Klimaneutralität. Alle demokratischen Parteien sehen das als wichtig an, aber keine gibt schlüssige Antworten – gerade mit Blick auf eine Industriepolitik, die die Steuerung über den CO2-Preis begleitet.
Bei allen drei Themen fehlen überzeugende Ideen, am schlimmsten ist es beim Thema Demografie. Da laufen alle Parteien einfach um den Gorilla im Wohnzimmer herum.
Sie fordern immer wieder massive Investitionen des Staates – trotz Schuldenbremse. Wie soll sich Deutschland das leisten?
Zuerst muss man immer wieder erklären, warum das so wichtig ist: Investitionen in die Infrastruktur sind zentrale Vorleistungen des Staates für private Investitionen. Und diese privaten Investitionen kommen einfach nicht von der Stelle im Moment. Ein Grund dafür ist die überbordende Bürokratie zusammen mit der Steuer- und Abgabenbelastung der Firmen und Bürger.
Ein zweiter ist aber eben die Infrastruktur: Die Sanierung der Brücken, der Eisenbahn, des Energienetzes – all das ist alternativlos. Es spielt auch keine Rolle, wie wir in diese Lage gekommen sind. Die Frage ist jetzt, wie wir diese Investitionen organisieren.
Mein Plädoyer lautet: Die Schuldenbremse im normalen Haushalt belassen und daneben einen Infrastrukturhaushalt als Sonderhaushalt setzen, der es über zehn Jahre ermöglicht, die nötigen Investitionen über Kredite zu finanzieren. Denn im eigentlichen Haushalt werden wir ja ohnehin die Kosten der Demografie und höhere Verteidigungsausgaben zu finanzieren haben. Der Konsolidierungsdruck bleibt hoch.
Nur neun der vom IW befragten Verbände rechnen mit höheren Investitionen der Firmen in Deutschland, 20 mit niedrigeren. Werden die staatlichen Investitionen daran etwas ändern können oder ist die De-Industrialisierung nicht mehr abzuwenden?
Im Trend schrumpft die Industrieproduktion seit Anfang 2018. Die Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe ist zwar stabil, aber früher ist sie gestiegen – die Luft ist also ein Stück weit raus.
Und wir erkennen, dass sich in der Industrie Probleme breitmachen. Dies ist in besonderem Maße in der Automobilindustrie, bei den Zulieferern und im energieintensiven Sektor der Fall. Wir brauchen deshalb eine Politik, die nicht nur steuerliche Anreize setzt – beispielsweise durch Super-Abschreibungen oder Investitionsprämien –, sondern auch den Willen hat, die Netzentgelte zu deckeln oder in den Bundeshaushalt zu übernehmen. Dieser richtige Gedanke findet sich zum Glück in nahezu allen Wahlprogrammen.
Wir müssen auf Wachstum setzen, wenn wir unsere Probleme der Alterung und der Transformation bewältigen wollen.
Laut IW-Verbandsumfrage haben sich die Beschäftigungsperspektiven weiter verschlechtert. Ist das mit Blick auf den Fachkräftemangel nicht eine gute Nachricht, weil es ohnehin zu wenige Bewerber gibt?
Wenn wir Beschäftigung abbauen und eigentlich wettbewerbsfähige Arbeitsplätze verlieren, dann ist das nicht gut. Wir werden sehen, dass es am Arbeitsmarkt mühsamer wird, denn die Firmen horten keine Beschäftigten mehr – wenn ihr Geschäftsmodell insgesamt infrage steht.
Aber es stimmt schon: Wir werden gut qualifizierte Fachkräfte an anderer Stelle in der Wirtschaft unterbringen können. Das wird den Fachkräftemangel dämpfen.
Nur: Wir müssen auf Wachstum setzen, wenn wir unsere Probleme der Alterung und der Transformation bewältigen wollen.
Nicht nur die Ampelkoalition, sondern auch die erste EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hatten die Energiewende ganz weit oben auf die politische Agenda gepackt. Wie bewerten Sie das im Rückblick?
Ein Rückblick dreht sich immer nur um verschüttete Milch. Natürlich sage ich auch jetzt, dass man die letzten Atomkraftwerke hätte weiterlaufen lassen sollen. Perspektivisch spielt Atomenergie aber keine Rolle mehr, da diese über Grundlastkraftwerke bereitgestellt wird, wir aber flexible Residualkraftwerke benötigen.
Wir müssen jetzt nach vorne schauen. Wir wollen ja nicht zurück in die Ära der Kohle. Stattdessen müssen wir den Pfad der Transformation verlässlich organisieren. Und da ist den vorherigen Bundesregierungen vorzuwerfen, dass sie den Netzausbau für die neuen Energien vernachlässigt haben.
Wird es – mit Blick auf die zweite Präsidentschaft Donald Trumps und seine zu erwartende Energiepolitik – schwieriger, die Energiewende trotz Zumutungen für die Bevölkerung und die Firmen in Deutschland durchzusetzen?
Die Mehrheit für die Transformation und die Energiewende ist in Deutschland zum Glück robust, die meisten Bundesbürger sind also anderer Meinung als Trump. Aber sie wollen, dass die Energiewende ordentlich organisiert wird.
Wir müssen allerdings ehrlich sein: Das Ganze kostet. Das Heizungsgesetz war ein erstes Signal dafür, dass der Umbau zur Klimaneutralität für alle Haushalte mit finanziellen Herausforderungen verbunden ist.
Sie sind regelmäßig Gastdozent an der Stanford University und Mitglied der Atlantikbrücke. Welchen Rat haben Sie für die deutsche Außen- sowie Wirtschaftspolitik unter Trump?
Wir müssen erst mal sehen, was wirklich auf uns zukommt. Schon seit einem Jahrzehnt gibt es die Tendenz zur Deglobalisierung durch höhere Zölle und protektionistische Eingriffe, das wird sich fortsetzen. Klar ist: Wir werden die Amerikaner nicht mit moralischen Vorhaltungen zu anderen Entscheidungen bringen.
Wir müssen stattdessen unsere Interessen klar artikulieren und die Interessen der Amerikaner zur Kenntnis nehmen. Der Unterschied zwischen Trump und den vorherigen US-Präsidenten wird ehrlicherweise wohl eher der Ton aus Amerika sein als der Inhalt, denn schon Obama hat die Welthandelsorganisation unterminiert und Biden hat keine Zölle Trumps zurückgenommen.
Wir haben eine gute Forschungsinfrastruktur und ein sehr gutes duales Berufsausbildungssystem.
Das heißt für uns: Wir müssen alles mit und in Europa tun. Die territoriale Integrität muss gestärkt werden mit einem 300-Milliarden-Euro-Sondervermögen – statt der jetzigen 100 Milliarden Euro – für die Bundeswehr. Und wir müssen eine kluge Außenhandelspolitik betreiben. Das Mercosur-Abkommen ist da ein erster Lichtblick.
Bei all den schlechten Nachrichten vom und für den Standort Deutschland: Was läuft gut und wo geht es deutlich voran?
Wir haben es beispielsweise geschafft, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 2,5 auf 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts massiv zu erhöhen. Wir haben generell eine gute Forschungsinfrastruktur, ein sehr gutes duales Berufsausbildungssystem und wir haben die industriellen Cluster mit Industriefirmen und zugehörigen Dienstleistern. Wenn wir all dem wieder einen klaren Rahmen geben, dann bin ich nicht pessimistisch.