Mittel- und Osteuropa Lesezeit 4 Min.

Interview: „Mit vielen Partnerländern ist der Handel überdurch­schnittlich gewachsen“

Trotz des Kriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, hat sich der deutsche Außenhandel mit Mittel- und Osteuropa intensiviert. Sogar der deutsch-ukrainische Handel befindet sich seit Kurzem wieder auf Wachstumskurs. Welche Länder und Warengruppen im Jahr 2022 im Einzelnen von diesen Entwicklungen profitieren konnten, erläutert Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

Kernaussagen in Kürze:
  • „Die deutschen Firmen in Russland unterstützen wir weiterhin. Es geht vor allem darum, einen Erfahrungsaustausch zwischen den Unternehmen zu organisieren“, sagt Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.
  • Von den gegen Russland verhängten Sanktionen sind insbesondere die deutsche Automobil- und Kfz-Teile-Industrie, die Elektrotechnik und der Maschinenbau betroffen, so Harms.
  • Ein bewusstes Umgehen der Sanktionen durch relevante deutsche Unternehmen schließt Harms aus.
Zur detaillierten Fassung

Trotz der Sanktionen und der gedrosselten Energieausfuhren zeigt sich die russische Wirtschaft erstaunlich robust. Warum ist das so?

Der prognostizierte Rückgang der Wirtschaftsleistung im Jahr 2022, den sogar die russische Zentralbank zunächst zwischen 6 und 8 Prozent gesehen hat, ist in der Tat so nicht eingetreten. Das liegt an fünf Faktoren: Der wichtigste Punkt sind die extrem hohen Einnahmen aus den Energieexporten, die Russland erwirtschaftet hat. Zweitens haben die Sanktionen, der teilweise Importstopp und die Devisenkontrollen der russischen Zentralbank die Importe stark gedrosselt, sodass 2022 ein hoher Leistungsbilanzüberschuss von mehr als 200 Milliarden Dollar entstanden ist.

Mit Ländern wie Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei ist der deutsche Handel überdurchschnittlich gewachsen. Eine ähnlich positive Entwicklung beobachten wir mit Südosteuropa.

Drittens haben Russlands durchaus kompetente Wirtschaftsbehörden – vor allem die Zentralbank – schnell reagiert und viertens haben auch die krisenerprobten russischen Unternehmen sich sehr flexibel an viele Herausforderungen im vergangenen Jahr angepasst. Der fünfte Punkt: Sehr viele Länder wie China, Indien, die Türkei und ganz Lateinamerika haben sich den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Deren Geschäfte mit Moskau laufen weiter oder haben sich sogar noch verstärkt.

Viele deutsche Unternehmen haben sich aus Russland zurückgezogen. Die Unternehmen, die noch in Russland tätig sind, werden von Ihnen unterstützt. Wie sieht diese Hilfe konkret aus?

Es sind in der Tat viele deutsche Unternehmen dabei, sich aus Russland zurückzuziehen, das ist ein sehr komplexer Prozess. Die deutschen Firmen in Russland unterstützen wir weiterhin. Es geht vor allem darum, einen Erfahrungsaustausch zwischen den Unternehmen zu organisieren, dafür haben wir eine eigene Veranstaltungsreihe aufgesetzt. Zweitens beobachten wir die makroökonomische Lage sehr genau und bieten dazu Briefings an. Und wir organisieren Runden mit Beratern, die die rechtlichen, steuerlichen und politischen Herausforderungen in Russland erklären.

Was wir explizit nicht tun, ist, Kontakte mit offiziellen russischen Stellen zu unterhalten oder zu vermitteln.

Michael Harms ist Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft; Foto: Christian Kruppa Die deutschen Exporte nach Russland sind 2022 um fast die Hälfte zurückgegangen. Welche Branchen betrifft das vor allem?

Das betrifft etwa die Automobil- und Kfz-Teile-Industrie, die Elektrotechnik und den Maschinenbau. Das größte Exportgut im vergangenen Jahr sind die Pharmaerzeugnisse geworden, die ja nicht unter die Sanktionen fallen. Beim Maschinenbau ist die Landtechnik innerhalb der Produktgruppen führend, die ebenfalls nicht sanktioniert wurden. Man sieht also ganz klar die Korrelation zwischen den Sanktionen und der Handelsstatistik.

Der deutsche Handel mit den von Ihnen vertretenen 29 Ländern in Mittel- und Osteuropa erreichte 2022 einen neuen Höchststand. Welche Länder haben besonders profitiert?

Mit Ländern wie Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei ist der Handel überdurchschnittlich gewachsen. Natürlich schlagen da auch Preiseffekte durch. Eine ähnlich positive Entwicklung beobachten wir mit Südosteuropa; sehr hohe Wachstumsraten – wenn auch von einem niedrigeren Niveau aus – hatten wir zudem in Zentralasien und im Südkaukasus.

Armenien und Kasachstan stehen unter dem Verdacht, westliche Güter, die unter die gegen Russland verhängten Sanktionen fallen, zu importieren, um sie dann dorthin weiterzuverkaufen …

Wir gucken uns diese Fälle genau an und sind dazu im engen Austausch mit der Bundesregierung. Aber ein bewusstes Umgehen der Sanktionen durch relevante deutsche Unternehmen schließe ich aus. Ich beobachte vielmehr ein anderes Phänomen: die Over-Compliance. Die deutschen Exportunternehmen machen im Zweifel lieber kein Geschäft, als sich dem Verdacht auszusetzen, die gegen Russland verhängten Sanktionen zu unterlaufen.

Der bilaterale Handel mit der Ukraine ist 2022 nur um 7 Prozent zurückgegangen, seit dem Spätherbst befindet er sich sogar auf Erholungskurs. Wie kann das sein?

Man muss ehrlicherweise sagen, dass das alles auf einem noch niedrigen Niveau stattfindet. Doch wir sind zufrieden mit dem vergangenen Jahr. Auf der Importseite hatten wir sogar ein leichtes Wachstum, insbesondere bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Kfz-Teilen, die deutsche Unternehmen in der Ukraine herstellen. Beim Export gab es angesichts der Umstände einen vergleichsweise moderaten Rückgang, was mich freut, denn das zeigt, dass es noch genug Abnehmer in der Ukraine gibt und dass die Finanzierung funktioniert.

Ihr Verband setzt sich für schnelle Nothilfe und einen zeitnahen Wiederaufbau der Ukraine ein. Wie oft lässt sich die von Russland mehrfach zerstörte Infrastruktur wieder aufbauen?

Ein echter Wiederaufbau wird erst dann möglich sein, wenn es einen Waffenstillstand oder Frieden gibt. Allein mit staatlichen Mitteln ist das dann aber nicht zu stemmen. Dafür brauchen wir private Investitionen und wir sehen aus zahlreichen Gesprächen, Umfragen und Initiativen, dass die deutsche Wirtschaft ein großes Interesse daran hat, sich an dem Wiederaufbau zu beteiligen – einerseits aus wirtschaftlichem Interesse, aber auch mit einem starken emotionalen Engagement.

Bislang hat kein größeres deutsches Unternehmen die Ukraine verlassen. Das ist angesichts des Kriegs erstaunlich.

Nicht nur die größeren Unternehmen, auch die Mittelständler sind alle dageblieben. Wir hatten vor ein paar Tagen einen Austausch mit dem Kanzleramt zu diesem Thema, bei dem rund 25 deutsche Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen präsent waren, die in der Ukraine tätig sind. Sie haben nochmals bestätigt, dass sie in der Ukraine bleiben wollen und dort auch ihre Zukunft sehen.

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