Interview: „Es muss sich einfach lohnen, mehr zu arbeiten“
In Deutschland soll mehr und flexibler gearbeitet werden. Warum das für die Beschäftigten ein Gewinn sein kann, erklärt Andrea Hammermann, Senior Economist für Personalökonomik im IW.
- „Bei einer flexibleren Wochenarbeitszeit wird tatsächlich mal von Montag bis Mittwoch viel gearbeitet, dafür haben die Beschäftigten aber den Rest der Woche auch mehr frei“, erklärt Andrea Hammermann, Personalökonomin im IW.
- Es sei nicht das Ziel, durch den Wechsel von einer Tageshöchstarbeitszeit zu einer Wochenhöchstarbeitszeit generell Arbeitszeiten zu verlängern, sondern mehr Flexibilität zu schaffen.
- Gleichwohl brauche es angesichts des demografischen Wandels einen Diskurs in Deutschland darüber, wie das Arbeitsvolumen gesteigert werden könne.
Sie plädieren für die Abschaffung der Tageshöchstarbeitszeit und fordern eine Wochenhöchstarbeitszeit. Beschäftigte, die ihr Wochenpensum bereits am Mittwochabend abgearbeitet haben, hätten dann also vier freie Tage am Stück?
Es ist nicht das Ziel, generell Arbeitszeiten zu verlängern, sondern mehr Flexibilität zu schaffen. Über das Pensum von Arbeitszeiten verhandeln die Tarifpartner beziehungsweise die Vertragspartner im Betrieb. Aber hier geht es darum, ob man die Arbeitszeit unterschiedlich auf die einzelnen Arbeitstage verteilen kann. Wir sehen schon heute, dass es durchaus Personengruppen gibt, die länger als zehn Stunden arbeiten. Doch wir haben in Deutschland eine tägliche Höchstarbeitszeit, die ein Überschreiten nur in ganz wenigen Ausnahmefällen überhaupt zulässt, und es ergibt aus unserer Sicht Sinn, das zu öffnen.
Ist diese Öffnung EU-konform?
Ja, denn es gibt eine EU-Arbeitszeitrichtlinie, die genau das vorsieht. Deutschland ist hier in der Vergangenheit einen Sonderweg gegangen und hat einen engeren Arbeitsschutz etabliert. Wir sagen übrigens nicht, dass diese Flexibilität für alle eine gute Idee ist, aber für gewisse Beschäftigtengruppen ist es sinnvoll, um Arbeitszeiten besser an betriebliche und individuelle Bedarfe anpassen zu können.
Wie sieht das in der Praxis aus? Kann der Arbeitgeber Beschäftigte zu langen Arbeitstagen verpflichten oder geht das nur in beiderseitigem Einverständnis?
Das passiert in Abstimmung zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten. Der Arbeitgeber hat zwar ein sogenanntes Direktionsrecht und kann die Lage der Arbeitszeit näher bestimmen, muss aber nach billigem Ermessen die Interessen der Beschäftigten berücksichtigen. Viele Beschäftigte haben heute deutlich mehr Einfluss auf ihre Arbeitszeitgestaltung und können auch aufgrund des knapper werdenden Erwerbspotenzials hierzulande ihre Arbeitszeitwünsche in Verhandlungen besser durchsetzen.
Sollen längere Arbeitstage zeitlich befristet werden, zum Beispiel auf zehn oder zwölf Wochen im Jahr?
Die Länge der vertraglichen Arbeitszeit bleibt durch den Wechsel von einer Tages- auf eine Wochenhöchstarbeitszeit unberührt, insofern ergeben sich Ausgleichszeiten, wenn an bestimmten Tagen mehr gearbeitet wird. Gesetzlich wäre die Wochenarbeitszeit ein Paradigmenwechsel, der es den Tarifpartnern erlauben würde, zu branchenspezifischeren Lösungen zu kommen. Gerade bei Bürobeschäftigten sehen wir Spielräume für mehr Flexibilität.
Wir brauchen in Deutschland flexiblere, aber auch längere Arbeitszeiten, um unseren Wohlstand vor dem Hintergrund der demografischen Herausforderungen zu sichern.
Bei einer Wochenarbeitszeit von beispielsweise 38 Stunden wird dann tatsächlich mal von Montag bis Mittwoch viel gearbeitet, dafür haben die Beschäftigten aber den Rest der Woche auch mehr frei. Meiner Überzeugung nach nehmen größere Spielräume durch den Gesetzgeber Führungskräfte und die Beschäftigten selbst noch stärker in die Pflicht, im Dialog miteinander zu einer effektiven und gesundheitsbewussten Arbeitszeitgestaltung zu kommen.
Neben der Flexibilisierung der Arbeitszeiten fordern Sie auch grundsätzlich längere Arbeitszeiten in Deutschland. Wie kann man Beschäftigte davon überzeugen, dauerhaft ein, zwei, drei oder mehr zusätzliche Stunden in der Woche zu arbeiten?
Im Koalitionsvertrag sind schon finanzielle Anreize für längere Arbeitszeiten vorgesehen: steuerfreie Zuschläge für Überstunden von Vollzeitbeschäftigten sowie eine steuerbegünstigte Prämie für Teilzeitbeschäftigte, die ihre Arbeitszeiten ausweiten. Generell wäre es zudem wichtig, dass Beschäftigte mehr Netto vom Brutto haben. Es muss sich einfach lohnen, mehr zu arbeiten.
Der zweite Riesenpunkt ist natürlich: Arbeiten sollte auch Spaß machen. Oft geht es in der öffentlichen Debatte nur darum, dass uns mehr Arbeit krank macht. Aber warum schauen wir nicht mehr auf die positiven Effekte der Arbeit?
Arbeit kann zu sozialer Teilhabe, zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Gesundheitsförderung beitragen.
Wir wissen aus der Forschung, dass sich Arbeitslosigkeit sehr negativ auf die Lebenszufriedenheit und die Gesundheit auswirkt. Umgekehrt bräuchten wir auch eine Debatte, was uns Arbeit eigentlich an sozialer Teilhabe, an Gesundheitsförderung, an Persönlichkeitsentwicklung bringt. Es gibt eben nicht nur Arbeitsleid, sondern Arbeit ist ein wichtiger Teil unseres Lebens: Man kann sich damit ausdrücken, eigene Stärken weiterentwickeln, die Zukunft mitgestalten und im Idealfall eigene Ideen verwirklichen. Wir sollten einen möglichst frühen Rückzug aus dem Erwerbsleben und geringe Arbeitszeiten nicht idealisieren.
Im Nachbarland Dänemark arbeiten die Menschen im Jahr im Schnitt 47 Stunden weniger als in Deutschland, in Frankreich sogar 73 Stunden weniger. Trotzdem wächst die Wirtschaft in beiden Ländern ...
Wir haben eine relativ geringe Jahresarbeitszeit im internationalen Vergleich. Das liegt auch daran, dass wir eine hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen haben, die generell häufiger in Teilzeit arbeiten. Hier haben wir vielen anderen Ländern etwas voraus, wenngleich hierzulande Teilzeit oft in vergleichsweise geringem Stundenumfang ausgeübt wird. Da geht möglicherweise noch mehr, doch dafür müssten wir Restriktionen, wie es sie etwa in der Kinderbetreuung gibt, abbauen. Dann könnten diejenigen, die mehr arbeiten wollen, es auch, weil sie wissen: Meine Kinder sind gut versorgt.
Sollte Deutschland einen Feiertag abschaffen, um das Arbeitsvolumen zu steigern?
Berechnungen aus dem IW zeigen, dass sich dadurch ein beachtliches Plus beim Bruttoinlandsprodukt ergeben würde.
Es braucht einen Diskurs, wie wir mehr Arbeitszeitvolumen generieren können.
Die Frage ist ja ganz einfach: Wie erhalten wir unseren Wohlstand vor dem Hintergrund der demografischen Herausforderungen? Ein Diskurs, an welchen Stellen wir mehr Arbeitszeitvolumen generieren können, gehört zur Lösungsfindung dazu. Das kann über Zuwanderung geschehen, darüber, dass wir generell mehr Menschen, die bereits hier leben, in den Arbeitsmarkt integrieren und über eine Ausdehnung der Arbeitszeit.
Wäre die eleganteste und womöglich auch günstigste Lösung nicht die, auf den technischen Fortschritt zu setzen? Warum lassen wir nicht Maschinen die notwendige Mehrarbeit erledigen?
Natürlich ist die Hoffnung in künstliche Intelligenz wie auch in Robotik und die Digitalisierung generell groß. Aber wir sehen bei der Arbeitsproduktivität, dass sich die neuen Techniken bislang nicht derart in den Statistiken niederschlagen. Meine Prognose ist, dass künstliche Intelligenz uns die Arbeit in Zukunft nicht in großen Mengen abnimmt und auch nicht den Fachkräftemangel komplett löst. Denn wir brauchen Menschen, die künstliche Intelligenz entwickeln und die aufgrund ihres Fachwissens KI sinnvoll und verantwortungsvoll anwenden. Zudem wird künstliche Intelligenz sehr häufig komplementär angewendet. Das heißt, sie macht uns schneller, sie macht vielleicht auch das, was wir schreiben oder übersetzen, besser. Aber sie automatisiert häufig nicht komplette Tätigkeiten. Ich wäre eher zögerlich, zu sagen, dass KI auch in Zukunft wirklich große Teile unserer Arbeit komplett ersetzen kann.