Interview: „Die Soziale Marktwirtschaft ist keine Selbstverständlichkeit mehr“
Das aktuelle IW-Zukunftspanel zeigt, dass Unternehmen sich weniger Bürokratie, geringere Lohnnebenkosten und mehr Demokratieförderung wünschen. Warum sich die Betriebe neuerdings so stark für gesellschaftliche Fragestellungen interessieren, erläutert die Leiterin Kooperationscluster IW-Befragungen, Susanne Seyda.
- „Mich hat überrascht, dass sich die Unternehmen von der neuen Bundesregierung so ausdrücklich Maßnahmen wünschen, die die Demokratie stärken und den sozialen Zusammenhalt fördern", sagt Susanne Seyda, Leiterin Kooperationscluster IW-Befragungen.
- Dies zeige, dass die Betriebe hier große Probleme ausmachen und dringenden Handlungsbedarf sehen.
- Die Verteidigung der Demokratie sei ihnen deshalb so wichtig, weil „die Unternehmen es schätzen, die Freiheit zu haben, verschiedene Dinge auszuprobieren und zu schauen, was gut ist und was nicht funktioniert".
Sie haben die Unternehmen nach ihren drängendsten Wünschen an die neue Bundesregierung befragt. Was hat Sie an den Antworten der Unternehmenslenker am meisten überrascht?
Wenn wir uns anschauen, was sich die Unternehmen von der Bundesregierung wünschen, um den Wohlstand in Deutschland zu sichern beziehungsweise zu erhöhen, dann hat mich folgende Aussage überrascht, vielleicht sogar ein wenig erschreckt: Sie erachten Maßnahmen, die die Demokratie stärken und den sozialen Zusammenhalt fördern, als sehr wichtig.
Unternehmen merken, dass die Soziale Marktwirtschaft keine Selbstverständlichkeit mehr ist und dass sowohl die Gesellschaft als auch der Staat – und auch die Unternehmen selbst – etwas tun müssen, um unsere Demokratie zu sichern.
Sie schätzen also die Gesamtsituation so ein, dass in diesen Bereichen große Probleme bestehen, und sehen hier dringenden Handlungsbedarf. Sie merken, dass die Soziale Marktwirtschaft, die lange Zeit die Basis für ihr wirtschaftliches Handeln war, keine Selbstverständlichkeit mehr ist und dass sowohl die Gesellschaft als auch der Staat – und auch die Unternehmen selbst – etwas tun müssen, um unsere Demokratie zu sichern.
Man kann doch auch in anderen politischen Systemen als der Sozialen Marktwirtschaft Geld verdienen und den Wohlstand steigern, wie man an China sieht. Warum ist die Verteidigung der Demokratie den heimischen Unternehmen dennoch so wichtig?
Weil Demokratie mit Freiheit einhergeht – auch mit unternehmerischen Freiheiten – mit Innovation, mit Ideen, mit Forschergeist. Die Unternehmen in Deutschland schätzen es, die Freiheit zu haben, verschiedene Dinge auszuprobieren und zu schauen, was gut ist und was nicht funktioniert. Wo kann man etwas verbessern, was sind die Bedürfnisse der Menschen? Die Unternehmen agieren ja nicht zum Selbstzweck, sondern letztlich geht es ihnen um die Menschen. Ihnen wollen sie Güter und Dienstleistungen verkaufen, die das Leben aus ihrer Sicht lebenswerter oder besser machen, und da ist es einfach wichtig, dass die Unternehmen diese Freiheit haben.
Konnten die Unternehmen ihre Antworten in Ihrer Befragung frei wählen oder waren Antwortmöglichkeiten vorgegeben?
Wir haben Antwortmöglichkeiten vorgegeben.
Es könnte also sein, dass den Unternehmen eigentlich ganz andere Dinge auf den Nägeln brennen?
Das könnte theoretisch sein. Aber es gab die Möglichkeit, dass die Unternehmen am Ende kommentieren konnten, ob ihnen der Fragenkatalog gefallen hat. Wir haben die Fragen kurz vor der Bundestagswahl gestellt und es gab erstens eine bemerkenswert schnelle und hohe Resonanz und zweitens hat sich kein Unternehmen darüber beschwert, dass wir wichtige Themen ausgelassen hätten.
Ganz oben auf der Prioritätenliste der Unternehmen steht der Bürokratieabbau. Dabei hat die Politik doch erst vor wenigen Monaten ein viertes Bürokratieentlastungsgesetz beschlossen, das die Unternehmen ab diesem Jahr um gut 3,5 Milliarden Euro jährlich entlasten soll …
Ich weiß nicht, wie viel von dieser Entlastung durch das Gesetz in den Unternehmen schon angekommen ist. Wir wollen das Thema Bürokratieabbau in unseren Befragungen auf jeden Fall noch weiter angehen, allerdings ohne dadurch selbst noch mehr Bürokratie in den Unternehmen zu schaffen. Denn wenn wir fragen: „Wie viel Arbeitszeit geht in Ihrem Betrieb für Bürokratie drauf?“, wollen wir nicht, dass die Unternehmen schlimmstenfalls jemanden damit beschäftigen, herauszufinden, wie viele Stunden für Bürokratieaufgaben aufgewendet werden, wenn die Unternehmen sowieso schon stark durch bürokratische Aufgaben belastet sind.
Zur Wohlstandssicherung favorisieren die Unternehmen, die Kosten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung einzudämmen. Für ein höheres Renteneintrittsalter oder eine längere Wochenarbeitszeit sprechen sich dagegen nur wenige Betriebe aus. Ist das ein Widerspruch?
Nein, das ist kein Widerspruch. Die Wochenarbeitszeit ist ein Thema, das hauptsächlich bei den Tarifparteien liegt, das heißt, das ist gar nicht so stark bei der Bundesregierung anzusiedeln. Die Tarifparteien können die Arbeitszeiten verhandeln und dann im Tarifvertrag eine Einigung finden, so wie es für die Beschäftigten und die Arbeitgeber passt. Und die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist natürlich eine Möglichkeit, die gesetzliche Rentenversicherung zu finanzieren, neben anderen Optionen.
Eine Reform der sozialen Sicherungssysteme ist nötig.
Ich denke, die Gewichtung der Antworten zeigt an dieser Stelle schlicht die Sicht der Unternehmen, die sagen, die Lohnnebenkosten sind einfach so hoch geworden, da muss was passieren. Es braucht aus ihrer Warte eine Reform der sozialen Sicherungssysteme und da gehört nun mal die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, die einen sehr großen Kostenblock ausmacht, dazu.
Das IW-Zukunftspanel gibt es seit 20 Jahren. Aus Ihrer Erfahrung: Wie viele Wünsche der Unternehmen werden in der Regel in der politischen Praxis erhört?
Das ist schwer zu messen. Die Befragung hat aber in jedem Fall einen Nutzen für die teilnehmenden Unternehmen. Zum einen sehen wir uns als Sprachrohr, indem wir versuchen, die Sichtweisen der Unternehmen in die Politikgestaltung mit einzubringen. Zum anderen geben wir den Unternehmen durch unsere Umfragen Hinweise, welche Themen aktuell sind.
Außerdem erhalten alle Unternehmen, die mitmachen, eine Benchmark, das heißt, sie bekommen immer auch noch eine Einordnung ihrer Antworten im Vergleich zu anderen teilnehmenden Unternehmen ihrer Branche oder ihrer Unternehmensgrößenklasse. So können die Betriebe sehen: Wo stehen wir überhaupt und welchen Blick hat unsere Branche auf die Dinge?