Interview: „Die Politik muss mehr von unten nach oben regieren“
Gefühle und subjektive Wahrnehmungen spielen eine große Rolle im aktuellen Wahlkampf, gleichzeitig verlieren die Parteien an Bindungskraft. Was die Politik dagegen tun kann, verrät Matthias Diermeier, Leiter des Kooperationsclusters Demokratie, Gesellschaft, Marktwirtschaft im IW.
- „Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die auf geopolitische Veränderungen und demografische Belastungen angemessen reagiert", sagt Matthias Diermeier, Leiter des Kooperationsclusters Demokratie, Gesellschaft, Marktwirtschaft im IW.
- Insbesondere die langfristigen Investitionsentscheidungen, die etwa für die deutsche Industrie richtungsweisend sind, müssten jetzt getroffen werden.
- Es gibt laut Diermeier jedoch auch in der kurzen Frist Möglichkeiten, wirtschaftspolitische Impulse zu setzen – etwa in Form von höheren öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur. Private Investitionen könnten durch Sofortabschreibungen oder Investitionsprämien angeschoben werden.
Auf einer Skala von null bis zehn: Wie wichtig ist die bevorstehende Bundestagswahl?
Die nächste Wahl ist immer die wichtigste, das ist wie beim Fußball.
Warum ist gerade diese Wahl so wichtig?
Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die auf geopolitische Veränderungen und demografische Belastungen angemessen reagiert. Zentral ist aber: Die deutsche Wirtschaft steckt in einem Strukturwandel per Termin: Bis 2045 muss Deutschland klimaneutral sein und die Politik muss jetzt glaubhaft die Weichen dafür stellen. Insbesondere die langfristigen Investitionsentscheidungen, die etwa für die deutsche Industrie richtungsweisend sind, müssen jetzt getroffen werden. Wird nicht entschieden, dann reißen wir entweder die Klimaziele oder wir werden eine klimapolitische Deindustrialisierung erleben.
Bis langfristige Reformen und eine starke Industriepolitik wirken, steht die nächste Wahl vor der Tür …
Es gibt in der kurzen Frist Möglichkeiten, wirtschaftspolitische Impulse zu setzen – in Form von höheren öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur oder über eine klimaorientierte Industriepolitik. Auf der anderen Seite könnte man die privaten Investitionstätigkeiten beispielsweise durch Sofortabschreibungen oder Investitionsprämien ganz kurzfristig anschieben. Mittelfristig lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit natürlich auch über Bürokratieabbau, Steuersenkungen und andere Maßnahmen stärken, das kann eine neue Bundesregierung auf jeden Fall umsetzen.
Das alles kostet sehr viel Geld, das IW geht von zusätzlich benötigten 600 Milliarden Euro aus. Ist es in diesem Zusammenhang richtig und sinnvoll, sich weiter zu verschulden?
Die öffentliche Hand kann Schulden aufnehmen und sollte dies explizit, wenn sie diese für Nettoinvestitionen in die Infrastruktur oder langfristig nutzbare Transformationsprozesse nutzt. Die Gefahr dabei ist, dass Politiker immer ein grundsätzliches Interesse daran haben, zu gestalten. Und zum Gestalten braucht man ebenfalls Geld.
Die abnehmende Bindungskraft der Parteien wird man nicht einfach zurückdrehen können. Politik muss trotzdem versuchen, weniger von oben herunter und mehr von unten nach oben zu regieren.
Wir sehen zum Beispiel jetzt im Wahlkampf, dass keine der Parteien ein konsistentes Rentenreformpaket vorgelegt hat. Die Rente wird damit immer teurer und belastet den Bundeshaushalt immer stärker. Die Gefahr ist, dass bei einer Lockerung der Schuldenbremse das frische Geld in die Rente, die Pflege – also in den Sozialstaat – hineinfließen könnte. Wenn man eine solche Reform der Schuldenbremse angehen würde, wäre es wichtig, entweder eine Investitionsklausel einzubauen oder ein Sondervermögen mit klar definiertem Ziel und Verwendungszweck aufzulegen. Für beides bräuchte es jedoch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag.
Ein weiteres drängendes Problem, der Fachkräftemangel, lässt sich nicht mit Geld allein lösen.
Richtig, wir haben 13,2 Millionen Menschen, die in den nächsten zehn Jahren in Rente gehen und nur 8,5 Millionen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, die gleichzeitig in den Arbeitsmarkt eintreten. Die Fachkräfteproblematik, die die Unternehmen jetzt schon umtreibt, wird sich also weiter verschärfen. Es braucht deshalb eine qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland, um diese Lücke zu schließen.
Wie attraktiv ist Deutschland für Zuwanderer?
Aktuell stellt sich Deutschland allerdings nicht gerade als ein Land dar, das für qualifizierte Zuwanderung attraktiv wäre. Eine ausländische Fachkraft, die vor der Frage steht, nach Deutschland oder in ein anderes Land auszuwandern, könnte sich angesichts der wirtschaftlichen Malaise der Bundesrepublik und der Art, wie hier über Migration gesprochen wird, für ein anderes Zielland entscheiden.
Müssten sich in diesem politischen und gesellschaftlichen Spannungsfeld auch die Unternehmen deutlicher für Fachkräfte aus dem Ausland stark machen?
Unternehmen und Unternehmer machen sich bereits sehr deutlich für Fachkräfte aus dem Ausland stark. Sie tun das auch, indem sie sich politisch stärker positionieren. In Deutschland war es lange Tradition, dass Unternehmen sich parteipolitisch enthielten. Sie hielten sich aus dem Wahlkampf heraus und gaben keine Wahlempfehlungen. Das hat sich mit dem Erstarken der AfD verändert. Aus unseren Befragungen wissen wir, dass sich mehr als jedes zweite Unternehmen in Deutschland explizit gegen die AfD ausspricht oder für Vielfalt, Toleranz und eine liberale Demokratie wirbt.
Sie haben herausgefunden, dass die Mehrheit der Bundesbürger es gar nicht gut findet, wenn Unternehmen politisch aktiv Stellung beziehen. Gleichzeitig sprechen sich viele Menschen dafür aus, dass Betriebe sich deutlich gegen politische Ränder abgrenzen sollen. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Auf den ersten Blick wirkt das paradox, dass die Menschen den Unternehmen diese politische Partizipation absprechen, sich aber gleichzeitig wünschen, dass sie sich gegen die AfD und zum Teil gegen das BSW positionieren. Wenn man aber in die Parteianhängerschaft schaut, sieht man, woran das liegt: Insbesondere Anhänger linker Parteien wünschen sich sehr stark gerade dieses Engagement gegen den rechten Rand. Das scheint der Der-Feind-meines-Feindes-ist-mein-Freund-Logik zu folgen: In Milieus, wo die AfD sehr stark als Feindbild gilt, wünscht man sich Unterstützung aus der Wirtschaft, auch wenn man eigentlich der Wirtschaft relativ kritisch gegenübersteht.
Wie stark beeinflussen Gefühle und subjektive Wahrnehmungen den politischen Diskurs?
Politik ist etwas inhärent Affektives, das zeigt sich interessanterweise auch in den Antworten auf wirtschaftspolitische Fragen: „Sag mir, um welche Themen Du Dir Sorgen machst und ich sage Dir, welche Partei Du wählst. Sag mir, wie hoch Du die Inflation einschätzt, wie hoch Du die Altersarmut einschätzt, wie zufrieden Du mit der wirtschaftlichen Lage in Deutschland bist und ich habe ein relativ gutes Modell, herauszufinden, ob Du dem politischen Rand zuzuordnen bist, ob Du die AfD oder das BSW wählst.“
Die Kraft der emotionalen Botschaften
Das ist etwas, das wir grundsätzlich in der Politik sehen: Sämtliche Parteien bemühen sich, mit emotionalen Botschaften zu werben – für Klimaschutz, für mehr Investitionen, gegen Migration. Hinzu kommt, dass vor allem das Säen von Kritik an traditionellen Medienquellen, aber auch an der öffentlichen Statistik am rechten politischen Rand sehr verbreitet ist und insbesondere von der AfD aktiv befeuert wird.
Wie könnte der Fokus wieder auf die Fakten gerichtet werden?
Es gibt keine einfachen Lösungen, auch deshalb, weil die Parteien in der Fläche nicht mehr stark genug sind, um die Menschen an den Stammtischen oder in den Vereinen zu erreichen. Diese abnehmende Bindungskraft, die ja auch andere Institutionen wie die Kirche oder die Gewerkschaften betrifft, wird man nicht einfach zurückdrehen können. Politik muss trotzdem versuchen, weniger von oben herunter und mehr von unten nach oben zu regieren. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Denn bei der Suche nach mehr Partizipation darf wiederum die Umsetzungsgeschwindigkeit nicht aus dem Blick geraten.