Interview: „Die meisten wollen der Gruppe der Reichen nicht angehören“
Die Ökonomen Judith Niehues und Maximilian Stockhausen forschen im IW seit Jahren zum Thema Einkommen. Im iwd-Interview sprechen sie über den deutschen Pessimismus, ihre Erwartungen an die kommende Bundesregierung und darüber, warum viele Menschen die Einkommensverteilung falsch einschätzen.
- Sowohl Menschen mit hohem als auch mit niedrigem Einkommen sehen sich oft in der Mitte der Verteilung, weil sie als Vergleich häufig Menschen aus der selben Einkommensschicht haben, sagt IW-Verteilungsforscherin Judith Niehues.
- Das Thema Reichtum sei in Deutschland speziell, sagt ihr Kollege Maximilian Stockhausen. Hier rede man im Gegensatz zu anderen Ländern finanziellen Erfolg eher klein.
- Mit Blick auf die neue Bundesregierung fordern die beiden Forscher, dass die Abgaben auf Einkommen nicht steigen dürfen, damit die Menschen nicht noch weniger netto vom brutto haben.
Die Menschen liegen in ihren Einschätzungen zur Einkommensverteilung oft daneben. Wie erklären Sie sich diese verzerrte Wahrnehmung?
Niehues: Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Was man aber auf alle Fälle sagen kann, ist, dass sich viele vor allem innerhalb der eigenen Peer Group vergleichen. Das heißt, wenn zum Beispiel Akademiker häufig mit anderen Akademikern zu tun haben, bekommen sie das Gefühl, in ihrer sozialen Gruppe einkommenstechnisch in der Mitte zu stehen. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben sie aber schon ein höheres Gehalt und würden demnach zu einer höheren Einkommensgruppe gehören.
Ein ähnliches Muster ist auch am unteren Ende der Einkommensverteilung zu erkennen. Wenn ärmere Menschen dort leben, wo viele andere Arme leben, dann vergleichen sie sich mit dieser Gruppe und haben oftmals das Gefühl, ein typisches Einkommen zu haben, obwohl sie in Wirklichkeit deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Hinzu kommt, dass Menschen grundsätzlich die Tendenz haben, sich in Befragungen eher in der Mitte einzuordnen.
Gibt es noch andere Gründe für diese Fehleinschätzung?
Stockhausen: Ich denke, die Menschen sind grundsätzlich zu wenig darüber informiert, wie die Einkommen in Deutschland tatsächlich verteilt sind. Und dann übertragen sie eben ihre Erfahrungen aus dem eigenen Umfeld auf alle, was so aber natürlich unzulässig ist.
Wenn wir über Reiche sprechen, wird das in Deutschland oft mit Eigenschaften verbunden, die vielleicht nicht so erstrebenswert sind.
Ein Ziel von uns ist es deshalb, hier mehr Transparenz zu schaffen. Mit unserem Einkommensrechner möchten wir dafür sorgen, dass die Menschen ein besseres Empfinden dafür bekommen, wo sie eigentlich mit ihren Haushaltseinkommen stehen.
Auch die Einschätzungen dazu, wer reich ist, treffen selten ins Schwarze. Reich sind außerdem meistens die anderen. Stichwort: Friedrich Merz.
Niehues: Das Thema Reichtum ist speziell. Wenn wir über Reiche sprechen, wird das in Deutschland oft mit Eigenschaften verbunden, die vielleicht nicht so erstrebenswert sind. Dieser Gruppe will man mitunter nicht angehören, man möchte lieber Teil der großen Gemeinschaft sein und zählt sich dann eher zur Mittelschicht oder zur oberen Mittelschicht.
Stockhausen: Das Beispiel von Friedrich Merz, der sich in der Mittelschicht verortet, ist ein sehr spezieller Fall. Als Politiker möchte man mit solchen Aussagen demonstrieren, dass man einer aus der Mitte des Volkes ist und weiß, wo die Probleme dieser Leute liegen.
Ich könnte mir grundsätzlich vorstellen, dass diese Abwehrhaltung, sich selbst zu den Reichen zu zählen, in anderen Ländern – zum Beispiel den USA – geringer ist.
Woran könnte das aus Ihrer Sicht liegen?
Stockhausen: In den USA unterstreicht und wertschätzt man viel stärker den Aufstieg und den Erfolg einer Person, Stichwort Selfmade- man. Es gibt eher die Kultur, Erfolg anzuerkennen. Entsprechend präsentieren sich Menschen mit ihrem Geld als Ausdruck des Erfolgs nach außen, um von der Gesellschaft gesehen und wertgeschätzt zu werden. Das ist bei uns etwas anders. Wir gehen da eher in eine Verteidigungsposition und reden Dinge klein.
Um Einkommen wird in Deutschland häufig ein großes Geheimnis gemacht. In anderen Ländern wie Schweden kann jeder sehen, was der Nachbar verdient. Ist das ein Grund für so viele falsche Annahmen hierzulande?
Niehues: Die Tendenz, sich selbst eher der Mitte zuzuordnen, habe ich bisher in den Daten aller Länder gesehen, mit denen ich mich beschäftigt habe. Bei der Frage, wie sich die Bevölkerung auf verschiedene Schichten verteilt, sind die Skandinavier aber tatsächlich realistischer. Ob es hier einen Zusammenhang zwischen Transparenz und Einschätzung gibt, müsste man untersuchen.
Die Mittelschicht ist laut Ihren Erkenntnissen stabil und robust. Die Grundstimmung im Land ist jedoch eine andere. Jammern wir zu viel in Deutschland?
Stockhausen: Das kann man so pauschal nicht sagen, weil wir in Deutschland gerade tatsächlich erhebliche strukturelle Probleme haben und zusätzlich mit einer Weltlage konfrontiert sind, die pessimistisch nach vorn blicken lässt. Allerdings ist die Kritik, dass wir manches zu pessimistisch einschätzen, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Umfragen zeigen, dass wir die persönliche wirtschaftliche Lage meistens viel besser einschätzen als die allgemeine wirtschaftliche Situation.
Es sollte der neuen Regierung vor allem darum gehen, dass die Menschen nicht noch weniger netto haben.
Niehues: Diese pessimistischere Sicht auf die Gesellschaft konnte man auch schon in den Umfragen vor der Coronapandemie sehen. Damals war jedoch der Blick auf die eigene Lage und die Erwartungen zur Zukunft sehr positiv. Zuletzt haben in unseren Umfragen mehr Menschen angegeben, eher schlecht mit ihrem Einkommen zurechtzukommen.
Stockhausen: Ich könnte mir vorstellen, dass auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt die Zukunftssorgen der Menschen vergrößert. Für eine Einschätzung ist dabei immer auch die Frage wichtig, inwieweit ich als Einzelner Kontrolle über mein Leben habe. Schaut man auf die schwierige Lage für die exportorientierte deutsche Wirtschaft durch Kriege, geopolitische Spannungen und neue Zollbarrieren, muss man anerkennen, dass der persönliche Einfluss sehr gering ist.
Aktuell werden in den Koalitionsverhandlungen die politischen Weichen für die kommenden Jahre gestellt, dabei geht es auch um notwendige Entlastungen der Steuerzahler. Mit Blick auf Ihre Forschungsergebnisse: Welchen Kurs sollte die künftige Bundesregierung einschlagen?
Stockhausen: Es sollte vor allem darum gehen, dass die Menschen nicht noch weniger netto haben. Angesichts des demografischen Wandels kommen in den nächsten Jahren immer neue Belastungen aus den Sozialversicherungen auf die Beschäftigten und ihre Arbeitgeber zu. Es gibt Modellrechnungen, in denen wir im Jahr 2035 bei einer Beitragssatzbelastung von insgesamt mehr als 50 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmer landen; aktuell sind es knapp 42 Prozent. Hinzu kommen wachsende Zinsverpflichtungen im Bundeshaushalt durch die neuen Schuldenaufnahmen. Ich sehe die Gefahr, dass man die jungen und mittelalten Haushalte in Zukunft finanziell überfordert. Da sollte die Koalition ein Auge drauf haben, doch zu solchen Überlegungen hört man relativ wenig.
Niehues: Wir sehen in unseren Umfragen auch, dass viele Menschen den Eindruck haben, dass das Verhältnis von staatlichen Abgaben zu dem, was sie dafür bekommen, nicht mehr richtig passt.
Mit der Aufnahme neuer Schulden sollen doch die Verteidigungsfähigkeit verbessert und die Wirtschaft angekurbelt werden …
Stockhausen: Richtig, und das kann letztlich auch auf die Haushaltseinkommen einzahlen. Aber nur, wenn dadurch zusätzliches Wirtschaftswachstum erzeugt und langfristig sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gesichert wird: Denn das größte Armutsrisiko ist und bleibt die Erwerbslosigkeit. Werden die Milliardenbeträge jedoch nur verkonsumiert, werden die zukünftigen Belastungen für die jüngeren Generationen ungleich höher ausfallen.