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Interview: „Corona hat den Finger in die Wunde gelegt“

Trotz Pandemie geht es mit der Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland nur langsam voran und milliardenschwere Start-ups sind hierzulande weiterhin selten. Die Gründe für beide Befunde sind vielfältig, sagen IW-Digitalisierungsexpertin Barbara Engels und IW-Unternehmensforscher Klaus-Heiner Röhl. Sie sehen einigen Aufholbedarf der Bundesrepublik, stellen aber auch Fortschritte fest.

Kernaussagen in Kürze:
  • Um die deutschen Unternehmen bei ihrer umfassenden Digitalisierung zu unterstützen, muss in der öffentlichen Verwaltung und bei den rechtlichen Rahmenbedingungen noch viel getan werden, sagt IW-Digitalisierungsexpertin Barbara Engels.
  • IW-Unternehmensforscher Klaus-Heiner Röhl fordert, dass die Digitalisierung in hochregulierten Bereichen wie dem Gesundheitswesen stärker zugelassen wird, da noch zu viele Verbote und Vorgaben digitale Unternehmen ausbremsen.
  • Beide sind sich einig, dass Deutschland in vielen Bereichen der Digitalisierung noch großen Aufholbedarf hat, aber auf dem richtigen Weg ist.
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Hat es Sie überrascht, dass der neue IW-Digitalisierungsindex trotz Pandemie und Homeoffice nur einen kleinen Sprung nach oben gemacht hat?

Engels: Der Sprung ist deswegen moderat, weil sich die Fortschritte der Digitalisierung nur auf bestimmte Branchen und Unternehmensbereiche beschränken. Da oft von einem großen Corona-Digitalisierungsschub zu lesen war, mag das den ein oder anderen überrascht haben. Ich finde das aber nicht verwunderlich, da gerade in einer Krise keine großen Veränderungen zu erwarten sind. Denn Digitalisierung setzt immer Investitionen voraus – viele Unternehmen sind jedoch gerade zu Beginn der Pandemie in enorme Unsicherheiten und unter Kostendruck geraten, weshalb sie eher weniger investiert haben.

Der Index beleuchtet zum einen die Unternehmen intern, zum anderen die – vor allem politisch verantworteten – externen Rahmenbedingungen der Digitalisierung. Wo gibt es den größeren Nachholbedarf?

Engels: Unternehmen können nicht umfassend digital werden, wenn die externen Rahmenbedingungen nicht stimmen, hier muss Deutschland aufholen. Der Index zeigt zwar, dass die technische Infrastruktur erheblich besser geworden ist – das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an einigen Stellen in Deutschland immer noch weiße Flecken auf der Mobilfunklandkarte und bei der Breitbandversorgung gibt, viele Menschen und Unternehmen also nicht so an der Digitalisierung teilhaben können, wie sie es gerne tun würden.

Nach wie vor hinken ländliche Regionen – vor allem im Osten Deutschlands – bei der Digitalisierung stark hinterher. Liegt das nur am schleppenden Breitbandausbau oder gibt es weitere Gründe?

Engels: In einigen Orten geht es tatsächlich nach wie vor um die ganz simplen technischen Voraussetzungen. Es kann nicht sein, dass es deutschlandweit – nicht nur in den ländlichen Regionen – immer wieder Probleme gibt, selbst eine einfache Videokonferenz ohne Verbindungsschwierigkeiten führen zu können. Corona hat bei diesem Problem noch mal den Finger in die Wunde gelegt und gezeigt, dass sich die digitalen Rahmenbedingungen verbessern müssen.

Unternehmen können nicht umfassend digital werden, wenn die externen Voraussetzungen nicht stimmen. In der öffentlichen Verwaltung und bei den rechtlichen Rahmenbedingungen besteht vielerorts noch großer Nachholbedarf.

Darüber hinaus besteht in der öffentlichen Verwaltung und bei den rechtlichen Rahmenbedingungen vielerorts noch großer Nachholbedarf. Solange die Verwaltung nicht digital ist, fällt es Menschen und Unternehmen natürlich schwerer, digital zu agieren.

Röhl: Ein Beispiel dazu: Ob ich Unterlagen mit der Hand unterschreiben und per Post zum Amt schicken muss oder alles digital regeln kann, hängt wesentlich davon ab, ob es eine rechtssichere digitale Signatur gibt. Im neuen Koalitionsvertrag ist jetzt immerhin das Vorhaben festgeschrieben, die Schriftformerfordernis abzuschaffen. Andere Länder – zum Beispiel Österreich, wo die digitale Signatur bereits eingesetzt wird – sind da aber Meilen weiter.

Der Digitalisierungsindex zeigt, dass zwar Arbeitsabläufe der Unternehmen digitaler wurden, deren Geschäftsmodelle allerdings kaum. Muss die Politik hier stärker unterstützen?

Engels: Letztendlich muss jedes Unternehmen für sich selbst herausfinden, bis zu welchem Grad digitale Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle hilfreich sind. Ein Brot bleibt immer ein Brot, das kann nicht digitaler werden. Automatisierungsprozesse in einer Großbäckerei sind dagegen ziemlich gut für die Digitalisierung geeignet. Aufgabe der Politik ist es, den Spielraum für Unternehmen zu schaffen, in dem sie ausprobieren und den für sie sinnvollen Grad an Digitalisierung feststellen können.

Aktuell gibt es weltweit so viele Start-ups mit Milliardenbewertung wie nie zuvor. Warum wächst die Zahl solcher sogenannter Einhörner so rasant?

Röhl: Der wahrscheinlichste Grund ist, dass Firmenbewertungen und die Bewertung von Geschäftsideen – gerade von digitalen – durch die Geldschwemme der Zentralbanken weltweit explodieren. Das sehen wir eben nicht mehr nur bei Immobilien oder auf dem Aktienmarkt, sondern auch, wenn Start-ups vom Markt mit einem Preisschild versehen werden. Unternehmen, die unter „normalen“ Umständen vielleicht nur die Hälfte wert wären, stehen deshalb plötzlich mit Milliardenbewertungen da.

Barbara Engels und Klaus-Heiner Röhl sind Senior Economists im Institut der deutschen Wirtschaft; Fotos: IW Medien Ein weiterer Grund ist, dass sich der Markt weiterentwickelt. Die Einhörner sind oft keine ganz jungen Start-Ups. Viele Gründungen der letzten zehn Jahre können sich mittlerweile die typischen Effekte der digitalen Märkte viel besser zu Nutze machen und wachsen deswegen exponentiell.

Engels: Der Erfolg digitaler Geschäftsmodelle wird auch von einer digitaleren Gesellschaft begünstigt: Im Digitalisierungsindex sehen wir, dass immer mehr digitale Produkte und Dienstleistungen nachgefragt werden. Der Index zeigt aber auch, dass sich die digitalen Start-ups in Deutschland noch stark auf einige wenige Branchen konzentrieren. Wenn Digitalisierung in Deutschland umfassend geschehen soll, müssen sich Gründungen über alle Branchen erstrecken.

Röhl: In den USA sieht man genau das schon. Dort ist die Digitalisierung in Bereiche vorgedrungen, in denen sie früher nahezu undenkbar war. Ein gutes Beispiel ist das Gesundheitswesen, im Digital-Health-Bereich gibt es in den Vereinigten Staaten schon einige Einhörner. Hierzulande stehen wir – auch aufgrund hoher rechtlicher Hürden – da noch am Anfang.

Warum ist die Gründerkultur in Deutschland insgesamt nicht so hip und erfolgreich wie in den USA?

Röhl: Viele der milliardenschweren Start-ups in den USA erreichen diesen Status durch hochbewertete Übernahmen, die gibt es hierzulande seltener. In der Hinsicht herrscht einfach eine enorme Konzentration von Kapitalgebern auf die USA und China. Deutschland hat nach Großbritannien die zweitmeisten Einhörner in Europa, steht also eigentlich gar nicht so schlecht dar.

Die Einhörner sind aber ja nur ein kleiner Ausschnitt der Gründerkultur. Wenn man die Start-up-Szene umfassend betrachtet, zeigt sich in Deutschland ein ganzer Strauß hemmender Faktoren.

Das fängt schon in der Lehre an: Die Hälfte der studentischen Ausgründungen der amerikanischen Top-Unis sind softwarebasiert. Das Informatikstudium an deutschen Unis ist dagegen nicht auf Softwareentwicklung ausgerichtet, sondern auf die Theorie.

Welche Wünsche haben Sie an die neue Koalition mit Blick auf die digitale Transformation?

Röhl: Viele Digitalisierungshemmnisse sind regional, da müssen alle politischen Ebenen mitziehen. Was aber bundespolitisch zu lösen ist: Die Digitalisierung muss stärker in hochregulierte Bereiche wie das Gesundheitswesen hereingelassen werden. Noch bremsen zu viele Verbote und Vorgaben digitale Unternehmen aus. Je stärker die Regierung rechtlich und regulatorisch gute Voraussetzungen schafft, desto eher werden sich digitale Start-ups über alle Branchen erstrecken.

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