Interview: „Aus der Kitakrise wird bald die Schulkrise“
Sinkende Geburtenzahlen entlasten vielerorts die Kitas – doch nicht überall in Deutschland. Wido Geis-Thöne, Senior Economist für Familienpolitik und Migrationsfragen im IW, erklärt, warum der Osten derzeit besser dasteht als der Westen und wieso nun auf die Schulen große Herausforderungen zukommen.
- „Die Klassen in Westdeutschland werden größer werden – zunächst in der Grundschule, dann in den weiterführenden Schulen“, prognostiziert Wido Geis-Thöne, Senior Economist für Familienpolitik und Migrationsfragen im IW.
- Hinzu komme die Frage, wie der kommende Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung umsetzbar ist.
- Ein großes Problem sei das fehlende Lehrpersonal. In den kommenden Jahren wird es wahrscheinlich auf häufigere Unterrichtsausfälle hinauslaufen, so der IW-Experte.
Die Geburtenzahlen in Deutschland sind derzeit niedrig. Gehören Eltern, die keinen Kita-Betreuungsplatz für ihr Kind finden, bald der Vergangenheit an?
In Ostdeutschland ist das mittlerweile ohnehin kaum noch ein Problem. Im Westen wird es auch sicherlich kleiner werden. Allerdings hängt das von der Entwicklung der Betreuungsbedarfe ab. Für diese sind wiederum auch die Kitagebühren von Bedeutung, die die Kommunen bestimmen. Direkt verschwinden wird das Problem voraussichtlich nicht.
Müssen sich Eltern im Osten darauf einstellen, dass Kitas und Grundschulen schließen müssen?
Da wird man nicht drum herum kommen. Das haben die ostdeutschen Kommunen aber auch erkannt, in Rostock wird zum Beispiel schon konkret darüber diskutiert.
Ein anderer Punkt ist natürlich die Frage, was dann mit dem Personal passiert. Da wäre es wichtig, die Beschäftigten auf andere Einrichtungen zu verteilen, um dort den Betreuungsschlüssel zu verbessern.
Wie sieht es mit den Betreuungszeiten aus? Könnte man diese nicht verbessern, um vor allem mehr Müttern die Chance auf einen Vollzeitjob zu geben?
In Ostdeutschland ist eine Betreuung bis 17 Uhr schon flächendeckend Standard. Das Problem der verkürzten Öffnungszeiten ist ebenfalls ein westdeutsches.
Ein Vorschlag von Ihnen ist, im Osten die frei werdenden Kapazitäten von Grundschulen für die weiterführenden Schulen zu nutzen. Geht das so einfach?
In gewissem Rahmen, ja. Man kann zum Beispiel einzelne leer stehende Räume einer Grundschule für Gymnasialklassen freigeben, wenn es in der weiterführenden Schule räumliche Engpässe gibt und beide Gebäude eng beieinanderstehen.
Im Westen werden die Klassen laut Ihrer Prognose bald voller. Auf welche Klassengrößen müssen sich die Lehrkräfte einstellen?
Das ist schwer zu beziffern. Fest steht, dass die Klassen in den alten Bundesländern größer werden – zunächst in der Grundschule, dann in den weiterführenden Schulen. Das liegt daran, dass die Geburtenzahlen im Westen von 2010 bis 2016 stark zunahmen und anschließend in vielen Regionen auf hohem Niveau blieben. Im Jahr 2021 gab es nochmals einen Anstieg, erst dann kam der Einbruch.
Die Klassen in Westdeutschland werden größer werden – zunächst in der Grundschule, dann in den weiterführenden Schulen.
Dazu kommt noch die Frage, wie der kommende Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung umsetzbar ist. Im Westen ist es eher so, dass das Ganztagsangebot über die Schulen geregelt wird und die Lehrkräfte zum Teil auch da noch eingebunden sind.
Ist so überhaupt noch vernünftiger Unterricht möglich?
Wir müssen damit rechnen, dass verschiedene Probleme aus der Kita auf die Schulen übergehen – aus der Kitakrise wird bald die Schulkrise. Ein großes Problem ist das fehlende Lehrpersonal. Da man mehr Lehrpersonen nicht so schnell ausbilden kann, wird es wahrscheinlich auf häufigere Unterrichtsausfälle hinauslaufen. Wie sich das im Einzelnen gestaltet, hängt auch vom jeweiligen Bundesland und von der Schulform ab.