Interview: „Arbeit muss zu einem wesentlichen Lebensinhalt werden“
Deutschlands Sozialsystem steht massiv unter Druck, der demografische Wandel wird die Lage verschärfen. Pascal Kober, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, erklärt im iwd-Interview, welches Narrativ für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands keinen Bestand haben darf und weshalb das Bürgergeld nicht funktioniert hat wie geplant.
- "Es muss sich lohnen, dass Leute länger arbeiten", fordert Pascal Kober, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, mit Blick auf die Auswirkungen des demografischen Wandels auf den Arbeitsmarkt.
- Zudem müsse die Visavergabe und die Anerkennung von Abschlüssen in Deutschland schneller laufen, um die Einwanderung von Fachkräften zu stärken.
- Er sieht auch die Wähler in der Pflicht, den Wandel mutig mitzugestalten.
Der demografische Wandel trifft den deutschen Arbeitsmarkt hart. Die Politik will deshalb die Einwanderung von Fachkräften stärken, entsprechende Gesetze sind bereits in Kraft. Dennoch kommen viel zu wenige Fachkräfte. Woran liegt das und wie könnte es anders laufen?
Hier müssen wir unterscheiden: Die Gesetze – das ist die Legislative. Jetzt ist es an der Exekutiven, die Hürden in der Anwendung zu beseitigen, und davon gibt es noch immer zu viele.
Ein Beispiel: Die Informationsmöglichkeiten für Fachkräfte aus dem Ausland sind zersplittert, es gibt verschiedene Online-Portale der Bundesregierung – zwei stellen Informationen aber nur auf Deutsch bereit. Ein drittes – das Informationsportal „Anerkennung in Deutschland“ – bietet hingegen Informationen in zehn Sprachen und die Auswertung der Zugriffe zeigt: 46 Prozent der Besucher nutzen diese anderen Sprachen. Man sollte vom Erfolg des einen auf die anderen schließen.
Diejenigen, die sich daraufhin entschließen, nach Deutschland zu kommen, stehen aber noch vor weiteren Hürden, oder?
Es kommen leider viele weitere Probleme hinzu: Die Visavergabe ist zu langsam, nicht zuletzt wegen Personalmangels, aber auch, weil hier viel zu wenig die digitalen Möglichkeiten ausgereizt werden.
Die Anerkennung von Abschlüssen ist ein weiteres Thema: Wir brauchen 18 bis 24 Monate, bis ein Arzt aus dem Ausland hierzulande anerkannt ist. Und im Pflegebereich bemessen wir Kompetenzen nach Zertifikaten. Vielleicht sollte man wie in Finnland mehr auf die Praxis schauen, Leute also einfach auf Probe arbeiten lassen.
Die Visavergabe und die Anerkennung von Abschlüssen ausländischer Fachkräfte sind in Deutschland zu langsam.
Zudem ist unsere Sprache eine große Hürde. Oder denken Sie an das Schulsystem. Wenn ein Experte nur für ein paar Jahre mit Familie in ein Land kommt und dann weiterziehen möchte, dann wird er das angelsächsische Schulsystem vorziehen, weil seine Kinder da viel leichter wechseln können.
Im internationalen Vergleich fällt auch das massive Brutto-Netto-Problem ins Gewicht: Steuern und Abgaben sind in Deutschland sehr hoch im Vergleich zu anderen Ländern.
Dafür bietet Deutschland aber auch ein umfassendes Sozialsystem.
Das ist sicher wichtig für Menschen, die lange hierbleiben. Aber viele Hochqualifizierte denken heutzutage projektbezogen, so was wie unsere Rente interessiert sie also erst mal nicht. Und wenn jemand drei oder vier Vertragsangebote aus verschiedenen Ländern hat, dann nimmt er all die Abzüge hierzulande eher nicht in Kauf.
Hinzu kommt eine Besonderheit der deutschen Wirtschaftsstruktur, die ich beispielsweise aus meinem Wahlkreis auf der Schwäbischen Alb kenne: Wir haben im ganzen Land in kleinen Gemeinden Weltmarktführer sitzen, aber die sind international über ihre Nische hinaus oft nicht bekannt. Entsprechend schwer fällt es ihnen, Fachleute aus dem Ausland zu gewinnen.
Und wenn sie dann welche haben, ist nicht gesagt, dass die lange bleiben – denn auf dem Dorf Anschluss zu finden, ist ja schon als Deutscher nicht leicht. Ideal wäre es da, wenn wir eine Peer-to-Peer-Beratung hinbekommen – wenn also ausländische Fachkräfte, die in Deutschland heimisch geworden sind, andere beraten und dazu bringen, vielleicht sogar in ein Dorf zu ziehen.
Sie sprachen schon die Portale an, über die sich Fachkräfte informieren können. Aber wer soll sich darüber hinaus um die Rekrutierung im Ausland kümmern?
Unsere Antwort als Liberale wäre: Zeitarbeitsfirmen – aber die dürfen es bislang nicht. Für unsere bisherigen Koalitionspartner ist die Zeitarbeit nämlich ein atypisches Beschäftigungsverhältnis. Dabei braucht eine dynamische Volkswirtschaft Werkverträge, Befristungen und eben auch Zeitarbeit.
Was ist der Plan B für Deutschland, wenn die Trendwende bei der Zuwanderung nicht gelingt?
Es muss sich lohnen, dass Leute länger arbeiten. Wir haben schon die Hinzuverdienstgrenze bei vorgezogenen Altersrenten gekippt. Es braucht aber weitere finanzielle Anreize – beispielsweise könnten Firmen den Rentnern, die weiterarbeiten, zusätzlich zum Gehalt auch die eingesparten Sozialversicherungsbeiträge auszahlen.
Beim Thema Erwerbsbeteiligung der Frauen – um eine weitere Stellschraube zu nennen – beißt sich momentan leider die Katze in den Schwanz: Oft sind es noch immer Frauen, die Kinder betreuen und Angehörige pflegen – auch, weil Fachkräfte in der Kinderbetreuung und in der Pflege fehlen. Deshalb sollte der Staat für diese Fälle zumindest die Möglichkeiten des Homeoffice erweitern, indem er das Arbeitszeitgesetz flexibilisiert, um Arbeit und Privates noch besser vereinbar zu machen.
Es muss sich lohnen, dass Leute länger arbeiten.
Ein weiterer Aspekt, den wir bei der Diskussion über eine neue Wehrpflicht nicht ausblenden dürfen: Damit würden wir ein Jahr hochqualifizierte Arbeit gegen ein Jahr Grundausbildung, also Hilfskraft tauschen, das wäre für den Arbeitsmarkt fatal.
Noch mal zurück zu den Älteren: Warum hat die FDP die Rente mit 63 nicht rückgängig gemacht, sondern nur mit wiederum teuren Maßnahmen wie der gekippten Hinzuverdienstgrenze für Rentner gegengesteuert?
Das Narrativ unserer bisherigen Koalitionspartner ist doch dieses: „Arbeit ist belastend, nicht zu arbeiten ist entlastend.“ Wenn wir nun stattdessen sagen „Arbeit ist etwas Positives, Arbeit ist ein wesentlicher Lebensinhalt“ – was wir dringend sagen müssen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden –, dann kollidiert das massiv mit diesem Narrativ. Natürlich sehen auch die Sozialdemokraten die Notwendigkeit zur Veränderung, aber eben nur mit angezogener Handbremse. Das Ergebnis ist dann ein Kompromiss wie bei der Rente.
Themenwechsel – Stichwort Bürgergeld: Ist man da schlicht zu weit gegangen in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen?
Es ist noch lange kein bedingungsloses Grundeinkommen. Es ist nicht voraussetzungslos, sondern einkommens- und vermögensgeprüft.
Zudem müssen Sie Folgendes sehen: Wir haben es vor einigen Jahren trotz bester Konjunktur nicht geschafft, rund 800.000 Leute in den Arbeitsmarkt zu bringen. Es ging da nicht primär um die Aufstocker oder Alleinerziehenden, sondern zentral um jene Gruppe mit sogenannten multiplen Vermittlungshemmnissen – beispielsweise ältere Geringqualifizierte mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Für diese Gruppe hat man das Bürgergeld konzipiert.
Aber dann kamen ganz andere Empfänger dazu – zum Beispiel die Geflüchteten aus der Ukraine.
Wir müssen das ganze Konstrukt Bürgergeld überdenken.
Wir müssen das ganze Konstrukt Bürgergeld deshalb überdenken mit Blick auf all jene, die ihre Arbeitskraft noch einbringen könnten. Dann hätten wir wohl auch vorm Bundesverfassungsgericht bessere Chancen, um mit höheren Leistungskürzungen für Verweigerer zu bestehen.
Im Übrigen bin ich überzeugt davon, dass wir als Volkswirtschaft in der Lage sind – mit Schulungen und gezielter Betreuung – einen großen Anteil jener Menschen, die jetzt Bürgergeld beziehen, mittelfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Was aber viel Geld kosten würde und ein Grund wäre, die Schuldenbremse zu lockern…
Nein. Wir haben ganz viele Effizienzen im System bislang nicht gehoben. Wir müssen an anderer Stelle die Dynamik so entfachen, dass der Staat zu seinen Einnahmen kommt – nicht über neue Schulden.
Zum Abschluss eine übergeordnete Frage: Woher kommt die Grundblockadehaltung in der Politik gegen wirklich zukunftsorientierte Reformen?
Wir sagen in der FDP: „Wir müssen in Generationen denken, nicht in Legislaturperioden.“ Diesen Gedanken spiele ich mal an die Bürger zurück: Der Wähler sieht immer das eine große Problem im Jetzt, das ist ja auch im Privatleben so. Aber das reicht nicht für den großen Wurf.
Das Schwierige ist, dass zumindest ein Teil der Wähler Angst vor dem Wandel hat. Einige Parteien versprechen Schutz vor diesem Wandel. Viel besser wäre es aber zu sagen: „Lasst uns den Wandel mutig gestalten.“
Das muss wieder mehrheitsfähig werden in unserem Land. Das ist doch übrigens auch der Kern klassischen Unternehmertums – ein Unternehmer denkt immer in Chancen. Das sollten wir in Deutschland alle gemeinsam auch wieder tun.