Gewerkschaften in Europa verlieren Mitglieder
Gewerkschaften sind in Europa je nach Land unterschiedlich stark. Doch egal, ob sie derzeit viele oder wenige Mitglieder haben, sie stehen überall vor ähnlichen Herausforderungen. Wollen die Vertreter der Arbeitnehmer auch künftig relevant bleiben, müssen sie ihre strukturellen Probleme lösen.
- Die Gewerkschaften in Deutschland verlieren seit geraumer Zeit an Bedeutung, ihr Organisationsgrad sinkt kontinuierlich.
- Das Phänomen ist auch in vielen anderen europäischen Ländern zu beobachten. Österreich bildete hier zuletzt die einzige Ausnahme.
- Die Gewerkschaften müssen mehr befristet Beschäftigte und Teilzeitkräfte überzeugen, häufiger in kleine Betriebe gehen, gezielt ausländische Fachkräfte ansprechen und die Interessen der jungen Generation besser vertreten.
Gewerkschaften haben in Deutschland eine lange Tradition und sind fester Bestandteil des Wirtschaftslebens. Präsent sind sie für die meisten Menschen vor allem dann, wenn eine Branche für einen guten Tarifabschluss oder bessere Arbeitsbedingungen streikt und deshalb beispielsweise keine Busse und Bahnen fahren oder die Kitas geschlossen bleiben.
Doch die Vertreter der Arbeitnehmer verlieren seit geraumer Zeit an Bedeutung. Das zeigt sich am Brutto-Organisationsgrad, also dem Verhältnis der Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder zur Zahl der Arbeitnehmer. In Deutschland fällt er seit vielen Jahren kontinuierlich (Grafik):
Im Jahr 2010 waren mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied in einer Gewerkschaft, im Jahr 2024 lag der Anteil nur noch bei 16,5 Prozent.
Auch beim Netto-Organisationsgrad, also dem Anteil der abhängig Beschäftigten, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, sieht es nicht besser aus. Im Jahr 2023 lag er bei 16,6 Prozent.
Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit im Mittelfeld. Die Unterschiede sind auf dem Kontinent teils enorm: Den höchsten Organisationsgrad gibt es in Schweden, wo zuletzt mehr als 72 Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglied waren, in Ungarn sind es dagegen weniger als 6 Prozent und in Polen knapp 8 Prozent.
Von 2016 bis 2023 ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften mit Ausnahme von Österreich in allen untersuchten europäischen Staaten zurückgegangen.
Die großen Differenzen lassen sich zum Teil durch die gewerkschaftliche Verwaltung der Arbeitslosenversicherung in einigen europäischen Ländern erklären – zum Beispiel in Finnland und Schweden, wo diese Versicherung bis heute teilweise von den Gewerkschaften verwaltet wird. Arbeitnehmer erwägen dort deswegen eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft häufiger als in Ländern mit staatlichen Zwangssystemen.
Ungeachtet der unterschiedlich starken Ausprägung haben die Gewerkschaften nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Europa mit rückläufigen Mitgliederzahlen zu kämpfen (Grafik):
Von 2016 bis 2023 ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften mit Ausnahme von Österreich in allen vom IW untersuchten Staaten zurückgegangen.
Die stärksten Verluste gab es in Belgien, wo der Organisationsgrad um mehr als 13 Prozentpunkte fiel.
Warum die Gewerkschaften Mitglieder verlieren
Als Gründe für den Mitgliederschwund hat das IW in einer tiefgehenden Analyse vier zentrale strukturelle Probleme ausgemacht, die die Gewerkschaften in vielen europäischen Ländern lösen müssen.
Atypische Beschäftigung. Befristet Beschäftigte und Teilzeitkräfte sind in vielen untersuchten Ländern nur selten in Gewerkschaften. Diesen Gruppen die Vorteile einer Mitgliedschaft überzeugend darzulegen, ist eine wichtige Aufgabe für die Arbeitnehmervertretungen.
Kleine Betriebe. Beschäftigte in Betrieben mit weniger als zehn Mitarbeitern sind vergleichsweise selten Gewerkschaftsmitglied. Das liegt vor allem an der fehlenden gewerkschaftlichen Präsenz, die in großen Unternehmen durch Betriebsräte oder Vertrauensleute einfacher zu erreichen ist. Die Gewerkschaften sollten Strategien entwickeln, um in kleinen Betrieben intensiver für sich werben zu können.
Migration. In einigen europäischen Ländern – darunter Deutschland – fällt es den Gewerkschaften schwer, Beschäftigte mit Migrationshintergrund für sich zu gewinnen. Angesichts des verstärkten Bemühens vieler Länder, Fachkräfte aus dem Ausland zu rekrutieren, gibt es hier auch künftig großes Potenzial. Eine gezielte Ansprache dieser Personengruppe könnte den Gewerkschaften einen deutlichen Schub geben.
Demografie. Viele Ältere gehen in den Ruhestand, wenige Junge starten ins Berufsleben – der demografische Wandel macht auch vor den Gewerkschaften nicht halt. Sie sind bisher vor allem in der Altersklasse der 51- bis 65-Jährigen stark, jüngere Menschen können sie dagegen selten von einer Mitgliedschaft überzeugen. Gewerkschaften sollten sich daher bemühen, stärker die Interessen der jüngeren Beschäftigten in den Blick zu nehmen und sich so für diese attraktiver zu machen.
Neben diesen vier strukturellen Herausforderungen, die die Arbeitnehmervertreter bewältigen müssen, gibt es noch eine weitere Option, auf Mitgliederfang zu gehen. Durch den Strukturwandel wachsen bestimmte Branchen – dort frühzeitig aktiv zu werden und eine Mitgliederbasis auszubauen, würde sich für die Gewerkschaften langfristig auszahlen.