Europäische Pharmaindustrie unter Druck
Mit einer Doppelstrategie hat China im Arzneimittelbereich sowohl seine eigenen Abhängigkeiten von anderen Ländern reduziert als auch eine Vormachtstellung für einzelne Wirkstoffe erreicht. Diese starke Position verleiht China ein Drohpotenzial. Deutschland und die EU müssen ihr Vorgehen im Pharmasektor daher dringend anpassen.
- China hat sich in den vergangenen Jahren zu einer breit aufgestellten wirtschaftlichen und politischen Macht entwickelt. Das gilt auch für den Pharmasektor.
- Deutschland ist vor allem bei Antibiotika und Schmerzmitteln abhängig von China. Die EU insgesamt ist auf Lieferungen aus der Volksrepublik angewiesen.
- Um die Abhängigkeit zu reduzieren, gilt es, in den hiesigen Pharmastandort zu investieren und die Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu verbessern. Gleichzeitig müssen Lieferketten bei Arzneimitteln und deren Vorprodukten diversifiziert werden.
Die Werkbank der Welt – das war einmal. China hat sich in den vergangenen Jahren zu einer breit aufgestellten wirtschaftlichen und politischen Macht entwickelt. Das gilt auch für den Pharmasektor. Bereits seit Jahrzehnten stuft die Führung in Peking die Pharmaindustrie als strategisch wichtige Branche ein. Im Jahr 2008 legte sie beispielsweise ein Spezialprogramm zur Entwicklung bedeutender neuer Medikamente auf. Allein zwischen 2011 und 2015 hatte das Programm ein Volumen von rund 1 Milliarde Dollar.
Das vorrangige Ziel war zunächst, die eigene Abhängigkeit vom Ausland zu reduzieren und die Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten zu sichern. Daneben spielen politische Motive für China ebenfalls eine große Rolle. Das lässt sich an einer Entwicklung besonders gut ablesen:
Normalerweise verlagern Branchen mit wachsenden technologischen Fähigkeiten die Herstellung von weniger profitablen Produkten in Länder mit niedrigen Lohnkosten – nicht so die Pharmaindustrie Chinas.
Die Volksrepublik produziert weiterhin große Mengen Wirkstoffe für Generika – das sind Medikamente, die den identischen Wirkstoff wie ein nicht mehr patentgeschütztes Medikament enthalten. Außerdem stellt China zahlreiche Vorprodukte her, die andere Länder für ihre Wirkstoff- und Medikamentenherstellung benötigen. Weil der Staat die Pharmaindustrie mit einer Reihe von Maßnahmen fördert und dabei auch stark subventioniert, hat China weiterhin klare Preisvorteile auf dem Weltmarkt. Dadurch hält das Land seine starke Marktposition.
Gleichzeitig macht das Reich der Mitte große Fortschritte in der Entwicklung neuer Wirkstoffe und Präparate (Grafik):
Von 2000 bis 2021 konnte China seine internationalen Patentanmeldungen im Pharmasektor von zehn auf 1.093 steigern.
Zum Vergleich: Die internationalen Patentanmeldungen aus Deutschland gingen im selben Zeitraum von 1.437 auf 849 zurück.
China als Zulieferer für die Pharmaindustrie unverzichtbar
Deutschland und die EU stecken wegen Chinas Pharmastrategie in einer schwierigen Situation. Da ist zunächst die große Abhängigkeit von Importen aus Fernost.
Das beginnt bereits bei der Zulieferung von chemischen Vorleistungen – diese sind wichtige Vorprodukte in der Pharmaherstellung. Der Importwert der chinesischen Lieferungen chemischer Vorprodukte hat sich seit 2010 fast versiebenfacht auf mittlerweile 352 Millionen Euro. Damit war China 2022 nach den Niederlanden der zweitwichtigste Lieferant in diesem Bereich. Auch die Pharmaproduktion Deutschlands steht folglich unter Druck.
Noch größer ist die Abhängigkeit in der Versorgung, vor allem bei generischen Arzneimitteln. Für die Bundesrepublik besteht für 20 der 56 untersuchten versorgungsrelevanten Wirkstoffe ein hohes Kapazitätsrisiko – das heißt, mindestens ein Drittel der gesamten Produktionskapazitäten würde bei einem chinesischen Lieferstopp potenziell wegfallen. Käme es so weit, könnten hierzulande jährlich bis zu 42 Millionen Packungseinheiten fehlen.
Besonders groß ist die Abhängigkeit bei Antibiotika und Schmerzmitteln (Grafik):
Der Bedarf Deutschlands am Antibiotikum Sulfadiazin wird zu 100 Prozent durch China gedeckt. Bei Metamizol, einem der meistverordneten Schmerzmittel, kommen mehr als 80 Prozent aus der Volksrepublik.
Es ist nicht zu erwarten, dass China von seinem bisherigen Kurs abweicht. Denn die große Abhängigkeit nicht nur Deutschlands und Europas von Arzneien und Vorprodukten ermöglicht es der Volksrepublik, eine Drohkulisse aufzubauen. Anders gesagt: China könnte seine Vormachtstellung nutzen, um politische Interessen durchzusetzen.
Europa sollte für eine nachhaltige Strategie zur Förderung der Pharmaindustrie nicht nur gesundheitspolitische Aspekte bedenken, sondern auch industrie-, innovations- und sicherheitspolitische Erwägungen einbeziehen.
Zwar ist nicht davon auszugehen, dass Peking einen kompletten Exportstopp pharmazeutischer Güter verhängt, denn damit würde das Land seiner Reputation als verlässlicher Handelspartner massiv schaden. Doch allein das Wissen um die eigene Verwundbarkeit könnte Europa in eine defensive Position bringen und damit zu (schmerzhaften) Zugeständnissen in einem Krisenfall führen. Ein großes Problem für die Europäer:
Die Versorgung mit Arzneimitteln lässt sich weder einfach noch schnell diversifizieren.
Das liegt daran, dass andere Weltregionen häufig in vergleichbarem Maße von chinesischen Zulieferungen abhängig sind und nicht so einfach als Ersatzlieferant einspringen können. Außerdem lassen sich die europäischen Produktionskapazitäten im Krisenfall nicht schnell ausweiten: Der Aufbau neuer Produktionsstätten ist ein teurer und zeitaufwendiger Prozess, der bis zu fünf Jahre dauern kann.
Wie groß die Abhängigkeit und damit die Gefahr insgesamt ist, verdeutlicht ein Blick auf die deutschen Einfuhren pharmazeutischer Grundstoffe – also der Basis späterer Medikamente (Grafik):
Mehr als 80 Prozent der importierten Vitamine und gut drei Viertel der importierten antibiotischen Wirkstoffe kamen im Jahr 2024 aus China.
Und die Abhängigkeit ist sowohl für Deutschland als auch für die anderen europäischen Länder nicht das einzige Problem. Die Innovationskraft Chinas setzt die heimischen Pharmafirmen ebenfalls unter Druck. Vor allem im biopharmazeutischen Sektor ist China inzwischen sehr stark. Dort entwickelten sich die Patentanmeldungen pharmazeutischer Firmen in den vergangenen zehn Jahren sogar dynamischer als in den USA. Auch hier braucht Europa dringend eine konkrete Antwort. Das Wichtigste dabei:
Europa sollte für eine nachhaltige Strategie zur Förderung der Pharmaindustrie nicht nur gesundheitspolitische Aspekte bedenken, sondern auch industrie-, innovations- und sicherheitspolitische Erwägungen einbeziehen.
EU muss eigene Pharmaunternehmen unterstützen
Drei Ansätze können entscheidend dabei helfen, die Pharmaindustrie in der EU zu stärken:
Halten. Die Rückholung generischer Produktionen nach Europa ist kaum zu realisieren, nicht nur aufgrund des Kostennachteils gegenüber China. Daher sollte der Fokus darauf liegen, bestehende Pharmakapazitäten auf dem Kontinent zu halten. Diese Erkenntnis ist bislang auf EU-Ebene kaum zu sehen. So sorgte etwa das jüngst beschlossene Ende der Produktion des Wirkstoffs Metamizol in Frankfurt-Höchst für wenig Aufsehen.
Diversifizieren. Konsens ist dagegen, dass die Beschaffung von Wirkstoffen und Vorprodukten breiter aufgestellt werden muss. Hier bieten sich Investitionspartnerschaften mit Drittstaaten an. Der Vorteil: Auch die Partnerländer könnten ihre Abhängigkeit von China reduzieren.
Forschen. Europa ist in der Biotechnologie weiterhin sehr innovativ. Gleichwohl muss die EU einige kritische Punkte überdenken. So haben chinesische Wettbewerber über bestehende Kooperationen Zugriff auf europäisches Know-how, das sie nutzen könnten, um das gleiche Produkt günstiger selbst herzustellen. Umgekehrt gibt China nicht alle im eigenen Land erhobenen Daten für Partner im Ausland frei. Gleichzeitig bestünden aber bei einem Kooperationsverbot Risiken – schließlich profitieren europäische Pharmafirmen auch im Fall einer ungleichen Datenverteilung von der Zusammenarbeit.
Ebenso spielen Prozessinnovationen in der Pharmaindustrie eine wichtige Rolle, um Kosten zu senken und wettbewerbsfähig zu bleiben. China konnte hier zuletzt Erfolge vorweisen, Europa muss nachziehen.