Mittel- und Osteuropa Lesezeit 6 Min.

Integration in die EU noch nicht vollendet

Die politischen Querelen zwischen Polen und Ungarn auf der einen und den zentralen Institutionen der Europäischen Union auf der anderen Seite sind ein Indiz dafür, dass einige der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten auch fast zwei Jahrzehnte nach dem Beitritt noch immer nicht ganz in der Staatengemeinschaft angekommen sind. In wirtschaftlicher Hinsicht allerdings waren die Integrationsfortschritte beachtlich.

Kernaussagen in Kürze:
  • Einige der mittel- und osteuropäischen Länder, die in den Jahren 2004 beziehungsweise 2007 der EU beigetreten sind, fühlen sich offenbar nicht vollständig den gemeinsamen Werten der Staatengemeinschaft verpflichtet – wie nicht zuletzt die Streitigkeiten der EU mit Polen und Ungarn nahelegen.
  • Wirtschaftlich gesehen, waren die Integrationsfortschritte der vergangenen Jahre allerdings beachtlich.
  • Gefördert wurde der wirtschaftliche Aufschwung in Mittel- und Osteuropa nicht zuletzt durch die Milliardenbeträge, die den Ländern aus den EU-Fördertöpfen zugeflossen sind.
Zur detaillierten Fassung

Die Europäische Union ist ein kompliziertes Konstrukt – und kann nur dann funktionieren, wenn alle Mitglieder zu Kompromissen bereit und auch gewillt sind, grundsätzliche gemeinsame Werte zu akzeptieren.

Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, haben zuletzt die Streitigkeiten der EU vor allem mit Ungarn und Polen verdeutlicht. So laufen gegen beide Länder Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, der die fundamentalen Werte der EU wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenwürde schützen soll. Unter anderem sieht das Europäische Parlament zum Beispiel in Ungarn das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie die Rechte von Minderheiten gefährdet.

Des Weiteren hat die EU Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn angestrengt, um gegen politische Beschlüsse vorzugehen, mit denen die beiden Länder unter anderem die Unabhängigkeit der Justiz untergraben.

Seit Jahren stehen auch Bulgarien und Rumänien unter Beobachtung der EU – etwa, weil diese Mitgliedsstaaten das Problem der Korruption nicht in den Griff bekommen.

Unterschiedliche Vorstellungen von Staat und Gesellschaft

Insgesamt fühlt sich offenbar nicht jedes der zehn mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL), die in den Jahren 2004 beziehungsweise 2007 der EU beigetreten sind – Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn –, vollständig den gemeinsamen Werten der Staatengemeinschaft verpflichtet. Einige Länder fremdeln noch immer mit dem liberalen, pluralistischen Staats- und Gesellschaftsbild, das in den westlichen EU-Staaten vorherrscht. Das ist für den zukünftigen Zusammenhalt der Union kein gutes Vorzeichen.

Der ökonomische Aufschwung im Zuge des EU-Beitritts hat den Lebensstandard in den mittel- und osteuropäischen Ländern erheblich gesteigert – die in Kaufkraftparitäten gemessenen Pro-Kopf-Einkommen sind inzwischen teils auf mehr als 80 Prozent des EU-15-Durchschnitts gestiegen.

Ganz anders sieht die Integrationsbilanz allerdings aus, wenn man auf die Wirtschaftsdaten schaut. Denn ein erklärtes Ziel der EU war und ist es, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen zu verringern, also die sogenannte Kohäsion zu fördern. Ohne wirtschaftliches Wachstum ist dieses Ziel kaum zu erreichen. Und in der Tat haben die mittel- und osteuropäischen Länder – bereits im Vorfeld ihres EU-Beitritts und seitdem –hier ein überdurchschnittliches Tempo hingelegt:

Im Schnitt wuchs das Bruttoinlandsprodukt der EU-Staaten Mittel- und Osteuropas von 1999 bis 2019 um real 2,9 Prozent pro Jahr.

Einige Länder wie Litauen, Rumänien und Estland erreichten sogar ein jahresdurchschnittliches Wachstum von etwa 4 Prozent. Zum Vergleich: In den „alten“ 15 EU-Staaten legte die Wirtschaft im selben Zeitraum lediglich um real 1,4 Prozent pro Jahr zu.

Lebensstandard ist deutlich gestiegen

Der ökonomische Aufschwung hat auch den Lebensstandard in den MOEL erheblich gesteigert – die in Kaufkraftparitäten gemessenen Pro-Kopf-Einkommen haben sich stark dem Schnitt der EU-15 angenähert (Grafik):

Seit dem Jahr 2000 – damals liefen bereits mit allen zehn mittel- und osteuropäischen Kandidaten Beitrittsverhandlungen – stieg zum Beispiel das um Kaufkraftunterschiede bereinigte Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Polen von gut 40 Prozent des EU-15-Durchschnitts auf mehr als 68 Prozent im Jahr 2019.

Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, um Kaufkraftunterschiede bereinigt, EU-15 = 100 Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Das Pro-Kopf-Einkommen der baltischen Staaten wuchs im selben Zeitraum von gut 30 auf teils fast 80 Prozent des mittleren Niveaus in der EU-15. Rumänien steigerte sich von nur 22 auf 65 Prozent.

Der Grundstein für diese Wohlstandszuwächse wurde schon vor dem EU-Beitritt gelegt – als sich die Länder nach dem Zusammenbruch des Ostblocks von Zentralverwaltungs- zu Marktwirtschaften wandelten. Dieser Prozess wurde von der EU mit finanziellen Hilfen und institutioneller Unterstützung gefördert.

Exporterfolge auch jenseits der EU

Die Transformation zu marktwirtschaftlich ausgerichteten Volkswirtschaften war wiederum eine wichtige Voraussetzung, um erfolgreich im Wettbewerb des europäischen Binnenmarktes bestehen und von dessen Vorteilen wie der Freizügigkeit von Waren und Kapital profitieren zu können.

Dass dies gelang, lässt sich unter anderem an den Exporterfolgen ablesen, die die MOEL im Zuge des EU-Beitritts erzielten (Grafik):

Gegenüber 1999 haben sich die Exporte der zehn mittel- und osteuropäischen EU-Staaten in die EU-15 bis 2019 in etwa versechsfacht, die Ausfuhren in die Länder außerhalb der EU erhöhten sich sogar fast um den Faktor neun.

Exporte der zehn mittel- und osteuropäischen EU-Länder in diese Zielregionen in Milliarden Euro Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Die MOEL haben es also vermocht, auch außerhalb der EU ihre Absatzmärkte auszubauen.

Zugleich ist die Bedeutung Mittel- und Osteuropas als Investitionsstandort gestiegen. Allein der Bestand der Direktinvestitionen aus der EU-15 hat sich zwischen 2013 und 2019 von 343 auf 470 Milliarden Euro erhöht. Für die Wirtschaft einiger Länder ist diese Kapitalzufuhr äußerst wichtig. In Ungarn beispielsweise belief sich der Bestand an Direktinvestitionen aus den früheren EU-Staaten im Jahr 2019 auf 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Tschechien waren es 45 Prozent und in Estland knapp 38 Prozent.

Abwanderung von Arbeitskräften

Zur Realität des Binnenmarktes gehört allerdings auch, dass viele Arbeitskräfte aus den MOEL nach dem EU-Beitritt vorübergehend oder sogar dauerhaft in die westlichen Mitgliedsstaaten ausgewandert sind – vor allem aufgrund der dort deutlich besseren Jobchancen und höheren Löhne.

Das hat die Zahl der Migranten aus den MOEL in die EU-15 kräftig steigen lassen – von 2,7 Millionen im Jahr 2000 auf 10,1 Millionen im Jahr 2020. Unter ihnen dürfte auch eine beträchtliche Zahl an qualifizierten Arbeitskräften sein – diese fehlen nun in ihren Heimatländern, was dort das wirtschaftliche Wachstum tendenziell bremst.

Abgeschwächt wird dieser Effekt dadurch, dass ein Teil der im Ausland tätigen Arbeitskräfte aus den MOEL nach wie vor einen Wohnsitz in ihrer Heimat hat und ihr Einkommen zumindest teilweise dorthin überwiesen wird. Zudem lassen auch die dauerhaft in die EU-15 Ausgewanderten ihren Familien in Mittel- und Osteuropa Geld zukommen.

Diese beiden Arten von Überweisungen von Migranten in die Heimat summierten sich beispielsweise für Rumänien im Jahr 2019 auf fast 6,5 Milliarden Euro – das entsprach knapp 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

In Ungarn machten die privaten Überweisungen und Erwerbseinkommen von in der EU-15 tätigen Landsleuten zuletzt 2,5 Prozent der Wirtschaftsleistung aus, in Bulgarien waren es 2,4 Prozent.

EU zahlt Fördergelder in Milliardenhöhe

Noch wichtiger dürften aber in den vergangenen Jahren für die MOEL die Finanzmittel gewesen sein, die ihnen im Zuge des Beitritts und danach aus den EU-Fördertöpfen zugeflossen sind – und von denen sie auch weiterhin profitieren werden. Denn ein wichtiger Teil des EU-Haushalts ist für die bereits erwähnte Förderung der Kohäsion vorgesehen, also vor allem für Projekte, mit denen die Wirtschaft in strukturschwachen, oft ländlich geprägten Regionen gefördert wird, damit dort der Lebensstandard steigen kann. Die Ausgaben dafür waren auch in der jüngsten EU-Haushaltsperiode beträchtlich (Grafik):

Allein Polen erhielt von 2014 bis 2019 jedes Jahr im Durchschnitt gut 10,4 Milliarden Euro an strukturpolitischen Fördergeldern aus dem EU-Haushalt – das war mehr als die Hälfte dessen, was der polnische Staat insgesamt innerhalb dieses Zeitraums investierte.

Strukturpolitische Fördermittel, die im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2019 aus dem EU-Haushalt an diese Mitgliedsstaaten geflossen sind Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

In Litauen machten die EU-Strukturmittel sogar 70 Prozent der staatlichen Bruttoanlageinvestitionen aus.

Zwar ist nicht genau festzustellen, wie effizient die EU-Mittel in den MOEL eingesetzt wurden – das Problem der Korruption oder auch die Einflussnahme der nationalen Politik dürfte die sinnvolle Verwendung der Gelder zumindest mancherorts beeinträchtigt haben. Dennoch haben die hohen Summen aus Brüssel die Wirtschaft in den MOEL insgesamt aller Wahrscheinlichkeit nach spürbar gestärkt.

Die Erfahrungen mit Ländern wie Polen und Ungarn zeigen aber eben, dass sich auch mit immensen finanziellen Transfers über viele Jahre hinweg keine Integration über die wirtschaftliche Seite hinaus erzwingen lässt. Das erklärt, warum die EU sich mit neuen Beitrittsaspiranten – wie einigen Balkanstaaten – so schwertut.

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