Einen Königsweg gibt es nicht
Anders als vor der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise gilt heute das Streben nach einem hohen Anteil des Dienstleistungssektors nicht mehr als der einzige Weg zum Wohlstand. Folglich sollte der Staat darauf verzichten, den Strukturwandel in eine bestimmte Richtung zu lenken.
- Die Politik sollte nicht versuchen, dem Strukturwandel eine bestimmte Richtung zu weisen, da es keinen klaren Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsstruktur und zentralen Wohlstandsindikatoren gibt.
- In Norwegen war der Anteil der Dienstleistungen an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöfpung im Schnitt der Jahre 2005 bis 2014 am niedrigsten, in Luxemburg am höchsten – beide Länder stehen jedoch im Ranking der Pro-Kopf-Einkommen weit vor allen anderen.
- In Deutschland und Norwegen ist die Arbeitslosenquote zwischen 1995 und 2014 zurückgegangen, obwohl der Dienstleistungsanteil fast konstant geblieben bzw. sogar geschrumpft ist – in Irland, wo der Servicesektor kräftig gewachsen ist, hat sich der Arbeitsmarkt ebenfalls positiv entwickelt.
Pragmatismus statt Ideologie – wenn es eine Kurzformel für Angela Merkels politische Haltung gäbe, dann wohl diese. Gerade in der Wirtschaftspolitik ist Pragmatismus oft angebracht. Dies gilt nicht zuletzt für Maßnahmen zur Gestaltung und Begleitung des Strukturwandels (Kasten). Denn bevor die Finanzbranche ab 2007 weltweit ins Straucheln kam, sahen viele Politiker und Ökonomen den Weg in die Dienstleistungswirtschaft als alternativloses Erfolgsrezept. Inzwischen schlägt das Pendel eher in die andere Richtung aus. So soll der Industrieanteil an der gesamten Wertschöpfung nach den Vorstellungen der EU-Kommission in allen EU-Ländern auf 20 Prozent steigen – derzeit liegt er zum Beispiel in Großbritannien nur bei 13 und in Frankreich bei 14 Prozent.
Doch mit dieser Zielsetzung würde die Politik erneut versuchen, dem Strukturwandel eine bestimmte Richtung zu weisen – ein fragwürdiger Ansatz. Denn bei näherem Hinsehen lässt sich kein klarer Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsstruktur und zentralen Wohlstandsindikatoren erkennen. Das belegen zwei Beispiele:
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Einkommen. Ein Blick auf die wichtigsten fortgeschrittenen Volkswirtschaften zeigt, dass ein hohes Pro-Kopf-Einkommen nicht vom Gewicht des Servicesektors abhängt (Grafik):
In Norwegen war der Anteil der Dienstleistungen an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung im Schnitt der Jahre 2005 bis 2014 mit 57 Prozent am niedrigsten, in Luxemburg mit 86 Prozent am höchsten – beide Länder stehen jedoch im Ranking der Pro-Kopf-Einkommen weit vor allen anderen.
Dass es zwischen Wirtschaftsstruktur und Wohlstand keine zwingende Verbindung gibt, zeigt sich auch im Zeitverlauf. So ist zum Beispiel in Deutschland der Dienstleistungsanteil an der gesamten Bruttowertschöpfung zwischen 1995 und 2014 nur um 2,4 Prozentpunkte gestiegen und damit deutlich schwächer als in den meisten anderen Volkswirtschaften. Dennoch hat das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen mit jahresdurchschnittlich 3,3 Prozent ähnlich stark zugelegt wie im Mittel der 21 untersuchten Länder.
Großbritannien verzeichnete ebenfalls einen mittleren Einkommenszuwachs – obwohl dort der Anteil des Dienstleistungssektors seit dem Jahr 1995 um 11 Prozentpunkte und damit besonders stark zugenommen hat.
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Arbeitsmarkt. Auch hier lässt der internationale Vergleich keinen Vorteil der Servicebranchen erkennen. Zum einen ist an der ökonomischen These, in einer besonders dienstleistungsorientierten Wirtschaft sei die Arbeitsmarktmobilität höher und damit die strukturelle Arbeitslosigkeit niedriger, offenbar nichts dran. So war die Arbeitslosenquote im industriestarken Tschechien im Durchschnitt der Jahre 2005 bis 2014 mit 6,5 Prozent ähnlich niedrig wie im besonders dienstleistungsstarken Großbritannien.
Zum anderen hängt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit nicht von einem bestimmten Verlauf des Strukturwandels ab:
In Deutschland und Norwegen ist die Arbeitslosenquote zwischen 1995 und 2014 zurückgegangen, obwohl der Dienstleistungsanteil fast konstant geblieben beziehungsweise sogar geschrumpft ist. Positiv entwickelt hat sich der Arbeitsmarkt aber auch in Irland, wo der Servicesektor kräftig gewachsen ist.
Offenbar führen also verschiedene Wege zum Wohlstand. Die Politik muss folglich auf der Basis der historisch geprägten Wirtschaftsstrukturen die richtigen Rahmenbedingungen setzen. In Deutschland beispielsweise gilt es, dem gewachsenen industriellen Mittelstand den nötigen Freiraum zu geben, damit er weiterhin im internationalen Wettbewerb mit innovativen Produkten erfolgreich sein kann.
Strukturwandel
Wirtschaftswissenschaftler verstehen unter sektoralem Strukturwandel die – langfristige – Verlagerung der wirtschaftlichen Aktivitäten von der Landwirtschaft zur Industrie und weiter zu den Dienstleistungsbranchen.
Diesem Muster folgen aber nicht alle Länder gleichermaßen, wie ein Vergleich von 21 fortgeschrittenen Volkswirtschaften für den Zeitraum 1995 bis 2014 verdeutlicht. Zwar hat der Servicesektor fast überall zugelegt – vor allem in Irland, Großbritannien, Portugal, Luxemburg und Spanien. In Norwegen allerdings ist der Dienstleistungsanteil an der gesamten Bruttowertschöpfung um fast 4 Prozentpunkte gesunken.
Deutschland verzeichnet seit 1995 lediglich eine Zunahme des Dienstleistungsanteils um 2 Prozentpunkte, während der Industrieanteil konstant geblieben ist und vor allem die Bauwirtschaft an Bedeutung verloren hat.
Die Veränderungen im Branchengefüge sind zudem kein stetiger Prozess (Grafik). In Deutschland hat sich das Tempo des Strukturwandels seit 2005 deutlich verringert, in vielen anderen Ländern – zum Beispiel in Großbritannien, Südkorea und Dänemark – war dies ab 2010 der Fall. Dies lag vor allem daran, dass der frühere De-Industrialisierungstrend zum Stillstand gekommen ist.