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„Die EU muss eine Führungsrolle übernehmen“

Aktuell stellt die Corona-Krise den regelbasierten Freihandel infrage. Doch wenn die Mitglieder der Welthandelsorganisation die Institution entschlossen reformieren und die Europäische Union zum internationalen Vermittler wird, könnte Corona dem Welthandel sogar neue Kraft verleihen, schreibt Aljoscha Nau, Referent Europapolitik im IW-Büro Brüssel.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die Corona-Pandemie stellt den regelbasierten Freihandel infrage und könnte leicht als Vorwand für neuen Protektionismus dienen.
  • Die Krise könnte dem Welthandelssystem allerdings auch neue Kraft verleihen, da sie die Bedeutung des freien Warenverkehrs deutlich macht.
  • Die Welthandelsorganisation muss allerdings gründlich reformiert werden - die EU könnte hierbei als treibende Kraft wirken.
Zur detaillierten Fassung

Die Lage ist ernst: Für 2020 rechnet die EU-Kommission mit einem Rückgang der EU-Exporte um 9,2 Prozent, die Importe aus Drittländern könnten um 8,8 Prozent sinken. Die Welthandelsorganisation (WTO) warnt sogar, der globale Handel könne um bis zu 32 Prozent schrumpfen. Gleichzeitig verstärkt die Krise drei Trends, die schlecht für den freien Handel sind:

1. Der Nationalstaat wird wieder zum zentralen Akteur – sogar innerhalb der EU. So hatten bis zum 27. April 2020 von 26 Schengen-Ländern 17 wieder Kontrollen an den Binnengrenzen eingeführt, um die Ausbreitung von Covid-19 zu stoppen.

2. Der Trend, Handelsverflechtungen zu reduzieren, setzt sich fort – seinen Anfang nahm er 2019 während des chinesisch-amerikanischen Handelsstreits.

3. Legitime Corona-Maßnahmen werden leicht zu einem Vorwand für Protektionismus. Laut Welthandelsorganisation (WTO) haben bereits 80 Länder und Zollgebiete als Reaktion auf die Corona-Krise Exportverbote oder -beschränkungen eingeführt, Tendenz steigend.

Die Corona-Pandemie könnte zu einem noch nie dagewesenen Maß an multilateraler Zusammenarbeit führen.

Aljoscha Nau ist Europareferent im Brüsseler IW-Büro; Foto: IW Doch es ist nicht ausgemacht, dass diese drei Trends den Welthandel wirklich dauerhaft schwächen. Die Corona-Pandemie könnte auch zu einem noch nie dagewesenen Maß an multilateraler Zusammenarbeit führen. Warum? Weil der globale Lockdown eindrücklich gezeigt hat, wie wichtig der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen ist und wie zentral es ist, funktionierende Lieferketten zu schützen.

Deshalb könnte jetzt die Stunde für WTO und EU gekommen sein – für die WTO, weil sie das beste Forum zum Austausch bietet; für die EU, weil sie die neue „Koalition der Willigen“ anführen könnte. Gemeinsam sollten alle Beteiligten folgende Themen anpacken:

Globale Solidarität darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Handelsbeschränkungen – zum Beispiel für Nahrungsmittel, Arzneistoffe und Schutzausrüstungen – müssen beseitigt werden. Nationales „Hamstern“ ist der falsche Ansatz.

Reibungsloser Güterverkehr ist gerade in Krisenzeiten entscheidend. Deshalb hat die EU schon am 23. März sogenannte Green Lanes an den geschlossenen Grenzübergängen eingeführt, um den freien Handel mit wichtigen Produkten in der EU zu gewährleisten. Darüber hinaus haben sich die EU und 21 weitere WTO-Mitglieder am 24. April verpflichtet, die reibungslose Funktion der globalen Lebensmittelversorgungsketten zu sichern.

Zölle senken und nichttarifäre Handelshemmnisse abbauen – für Arzneimittel, persönliche Schutzausrüstung und Medizinprodukte: Die EU hat bereits am 24. April die Regelungen für entsprechende Ausfuhren aus der EU gelockert – ein erster Schritt.

Nach Corona: Handel als Weltwirtschaftsmotor

Nach der Corona-Pandemie kann der Welthandel der Motor für eine rasche Erholung der Weltwirtschaft sein. Dies setzt jedoch eine ambitionierte Reform der WTO voraus. Denn seit dem Ende der Uruguay-Runde von 1994 gab es keinen großen Liberalisierungsfortschritt in der Handelspolitik mehr. Die Welt hat sich seither rasant verändert, die WTO nicht.

Im Dezember 2019 hat die US-Regierung das 25 Jahre alte Streitschlichtungssystem der WTO gelähmt, indem sie die Ernennung neuer Richter für das Berufungsgremium blockierte. Damit degradierte sie die WTO zu einem zahnlosen Tiger.

Hoffen lässt jedoch die im Januar 2020 von der EU und Kanada eingerichtete, befristete Berufungsinstanz für potenzielle WTO-Streitigkeiten. Sie zählt inzwischen 17 WTO-Mitglieder, darunter Handelsschwergewichte wie China und Brasilien. Auf diesem Weg sichert die EU nicht nur die Handlungsfähigkeit der WTO, sondern signalisiert ihre Ambition, als ehrlicher Vermittler für eine Reform des Welthandelssystems einzutreten. Bereits während des chinesisch-amerikanischen Handelskrieges im vergangenen Jahr zeigte sich, dass die EU als einziger Akteur in der Lage ist, die Kluft zwischen liberalen Marktwirtschaften und Chinas staatsgelenktem Wirtschaftssystem zu überbrücken.

Reformchancen nutzen

Oberstes Ziel einer Reform der WTO muss es nun sein, das wohlstandsfördernde Potenzial des Welthandelssystems zu erhalten. Das ist nämlich immens: Die WTO-Mitgliedschaft hat den beteiligten Staaten zwischen 1980 und 2016 einer Studie zufolge Wohlstandszuwächse von insgesamt rund 855 Milliarden Dollar beschert.

Um die WTO fit für die Zukunft zu machen, müssen ihre Mitglieder unter anderem eine gemeinsame Politik im Bereich des digitalen Handels und des Handels mit Dienstleistungen vorantreiben sowie Nachhaltigkeitsregeln etablieren. Auch hier kann die EU mit dem Green Deal, der Datenschutz-Grundverordnung sowie der neuen EU-Digitalstrategie eine Vorreiterrolle einnehmen.

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