Auf der Suche nach einer Perspektive
Im Laufe dieses Jahres werden in Deutschland rund 800.000 Asylbewerber erwartet. Viele Flüchtlinge haben in ihrer Heimat einen Beruf erlernt und wollen schnellstmöglich selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Doch der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ist für die Zuwanderer verhältnismäßig kompliziert.
- In Friedenszeiten ging fast jeder achte erwerbstätige Syrer einem akademischen Beruf nach.
- Die meisten Syrer arbeiteten im Handwerk oder einem verwandten Beruf.
- Asylbewerber haben oft keine Chance, in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten.
Bis einschließlich Juli dieses Jahres sind in Deutschland 133 Prozent mehr Asylanträge gestellt worden als im gleichen Vorjahreszeitraum. Und so wird es weitergehen. Mittlerweile rechnet die Bundesregierung für dieses Jahr mit 800.000 Flüchtlingen.
Kamen 2010 die meisten Antragsteller noch aus Afghanistan, so stammt heute gut ein Viertel aller Antragsteller aus Syrien. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres sind rund 42.000 Erstanträge auf Asyl von syrischen Flüchtlingen gestellt worden. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 sind damit mehr als 140.000 syrische Staatsbürger nach Deutschland eingereist, rund 110.000 von ihnen haben Asyl beantragt.
Wegen des Kriegs werden in der Bundesrepublik fast alle Asylanträge syrischer Flüchtlinge bewilligt. Einerseits stellt die große Zahl an Zuwanderern Deutschland vor große Herausforderungen: in puncto Unterbringung, Integration und Finanzierung. Andererseits könnten sich die vielen Flüchtlinge wegen des Fachkräftemangels auch als große Chance erweisen. Denn oft handelt es sich bei ihnen um junge, hochmotivierte Menschen, von denen viele einen Beruf erlernt oder studiert haben. Dies gilt vor allem für die syrischen Flüchtlinge (Grafik):
In Friedenszeiten ging fast jeder achte erwerbstätige Syrer zu Hause einem akademischen Beruf nach.
Die meisten Syrer arbeiteten jedoch im Handwerk oder einem verwandten Beruf. Gerade Handwerker werden hierzulande gesucht. Hier bieten sich auch für viele minderjährige Flüchtlinge – knapp 30 Prozent sind Kinder und Jugendliche – Chancen, indem man sie in das deutsche Ausbildungssystem integriert.
Es gibt zwar keine offiziellen Daten über die beruflichen Qualifikationen derjenigen, die nun in Deutschland ihr Glück suchen. Doch eine nicht repräsentative Umfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zeigt, dass 21 Prozent der befragten Syrer, die zwischen 2013 und August 2014 in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, eine Hochschule besucht haben. Fast die Hälfte der syrischen Flüchtlinge hat mindestens eine Grund- oder Mittelschulbildung, rund ein Fünftel eine Gymnasialbildung.
Dennoch liegen die Talente zunächst brach. So dürfen Flüchtlinge erst drei Monate, nachdem sie einen Antrag auf Asyl gestellt haben, arbeiten. Vorab wird zudem im Rahmen einer „Vorrangprüfung“ festgestellt, ob es keine passenden deutschen oder europäischen Bewerber gibt (vgl. iwd 36/2015).
Schwierig ist für Flüchtlinge auch die Aufnahme eines Studiums: Viele Immatrikulationsordnungen schließen sie vom Studium aus, auf Bafög können sie erst nach 15 Monaten Aufenthalt hoffen.
Darüber hinaus haben Asylbewerber oft keine Chance, in ihrem gelernten Beruf und auf ihrem Qualifikationsniveau zu arbeiten (siehe Interview). In reglementierten Berufen wie dem des Arztes bedarf es in Deutschland einer offiziellen Anerkennung der Ausbildung – entsprechende Nachweise können Flüchtlinge jedoch häufig nicht vorlegen.
Vor dem Einstieg in einen Job oder eine Ausbildung steht für viele Zuwanderer jedoch das Erlernen der neuen Sprache. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles will deshalb im Jahr 2016 die Plätze der berufsbezogenen Sprachkurse verdoppeln – auf dann 100.000.
„Alles ist besser, als zu Hause zu sitzen“
Als der Syrer Majid Albunni vor zwei Jahren nach Deutschland kam, hatte er bereits einen Arbeitsvertrag als Radiomoderator in der Tasche. Heute arbeitet der 27-Jährige als Social-Media-Redakteur in Berlin für das unabhängige Radioprojekt Syrnet, das mit Unterstützung des Auswärtigen Amts betrieben wird.
Wie haben Sie es geschafft, nach Deutschland zu kommen und direkt einen Job zu finden?
Ich bin im Oktober 2013 mit einem Schengen-Visa nach Deutschland gekommen und hatte bereits einen Arbeitsvertrag für Syrnet in Berlin. Den habe ich in Istanbul erhalten, wo ich meinen Master in Global Affairs gemacht habe. Erst als Anfang 2014 mein syrischer Pass ablief, habe ich mich entschieden, in Deutschland Asyl zu beantragen.
Wie sind Sie denn von Syrien nach Istanbul gekommen?
Nachdem ich bei einer Demonstration an meiner Universität Kalamoon verhaftet und eingesperrt worden bin, habe ich den Entschluss gefasst, Syrien zu verlassen. Das war im April 2012, ein Jahr nach Ausbruch des Bürgerkriegs. Ich bin zuerst nach China ausgereist, wo mein Bruder damals lebte. Das ging relativ einfach. Als ich in China nicht zurechtkam, bin ich nach Malaysia und dann nach Istanbul gezogen, wo ich weiterstudiert habe.
Sind Ihre Studienabschlüsse ohne weiteres in Deutschland anerkannt worden?
Es war nicht ganz leicht. Was mir geholfen hat, sind meine Erfahrungen und mein berufliches Engagement. Von meiner akademischen Ausbildung her bin ich eigentlich eher politisch orientiert, jetzt arbeite ich als Journalist. Aber was soll's? Ich kann mich glücklich schätzen, ich bin flexibel. Vielleicht kann ich später einen Job im politischen Umfeld finden.
Würden Sie sagen, dass Sie momentan unterhalb Ihrer Qualifikation arbeiten?
Ja, absolut. Andererseits hängen Politik und Journalismus eng zusammen und ich habe als Journalist auch viel dazugelernt.
Warum haben Sie sich für Deutschland entschieden, warum nicht für ein anderes Land in Europa?
Nun ja, hatte ich überhaupt eine andere Option? Ich war ja bereits in Deutschland und Syrer haben hier einige Privilegien. Außerdem hatte ich mir in Deutschland bereits ein Netzwerk aufgebaut, bevor ich den Asylantrag gestellt habe. Es wäre ein großer Verlust gewesen, das aufzugeben, wenn ich beispielsweise wieder zurück nach Istanbul gegangen wäre. Es war also eher eine pragmatische Entscheidung.
Welche beruflichen Erfahrungen machen andere Syrer, die Sie kennen, die nach Deutschland geflohen sind?
Viele von ihnen haben einen Bachelorabschluss oder etwas Vergleichbares und lernen gerade intensiv Deutsch, um ihren Master hier machen zu können oder eine Ausbildung oder ein Praktikum. Andere waren in Syrien beruflich wirklich sehr erfolgreich, ihnen fällt es oft schwer, wieder ganz von vorne anzufangen. Aber alles ist besser, als zu Hause zu sitzen und 300 Euro vom Jobcenter zu bekommen.