Armut und Reichtum in Europa sind eine Frage des Maßstabs
Wie viele Menschen von Armut bedroht sind, wird in den einzelnen Mitgliedsländern der Europäischen Union üblicherweise am jeweiligen mittleren Einkommensniveau festgemacht. Legt man für alle Staaten den durchschnittlichen Lebensstandard in der EU als Maßstab an, verschiebt sich die Verteilung von Armut und Reichtum deutlich.
- Das IW hat für alle EU-Staaten die Einkommensverteilung auf der Basis eines EU-weiten kaufkraftbereinigten Medianeinkommens neu berechnet.
- Demnach gelten in Deutschland nur gut 7 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet, weniger als halb so viele wie in der nationalen Betrachtung.
- In lediglich sechs Ländern ist der Anteil der relativ armen Bevölkerung nach EU-weitem Kaufkraftstandard geringer als in der Bundesrepublik.
Knapp 15 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gelten als armutsgefährdet. Das heißt, sie verfügen über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens – also des Einkommens, das die eine Hälfte der Bevölkerung unter- und die andere überschreitet. In Tschechien ist die sogenannte Armutsgefährdungsquote mit gut 10 Prozent EU-weit am niedrigsten, in Bulgarien sind dagegen fast 23 Prozent der Menschen relativ arm.
Auch generell sind die Einkommen in Bulgarien sowie in Litauen und Lettland besonders ungleich verteilt, während in der Slowakei, Slowenien und Tschechien das Gefälle zwischen Arm und Reich eher gering ist. Deutschland liegt mit Blick auf das Ausmaß der Einkommensungleichheit in etwa auf dem Durchschnittsniveau aller Mitgliedsländer der Europäischen Union.
Der Vergleich dieser Verteilungsindikatoren zwischen einzelnen Ländern hat allerdings einen Nachteil: Weil die Daten jeweils auf Basis der mittleren nationalen Einkommen berechnet werden, bleiben die Wohlstandsunterschiede zwischen den EU-Ländern außen vor.
Länderübergreifende Einkommensverteilung für die EU
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat deshalb eine länderübergreifende Einkommensverteilung berechnet – als wäre die EU ein einziger Staat. Um die Preisunterschiede zwischen den Ländern zu berücksichtigen, haben die IW-Forscher die nationalen Währungen in sogenannte Kaufkraftstandards (KKS) umgerechnet – mit einem KKS können sich die Konsumenten in allen Ländern rein rechnerisch die gleiche Menge an Waren und Dienstleistungen kaufen. Das EU-weite Medianeinkommen betrug demnach im Jahr 2021 – das ist der aktuell verfügbare Datenstand – 1.529 KKS. In deutschen Preisen waren das rund 1.651 Euro.
Legt man die um Kaufkraftunterschiede bereinigten Einkommen zugrunde, ändern sich die Befunde für die Einkommensverteilung erheblich (Grafik):
In Deutschland gelten gemessen am EU-weiten kaufkraftbereinigten Medianeinkommen nur gut 7 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet – also weniger als halb so viele wie in der nationalen Betrachtung.
Zudem steigen viele Bundesbürger durch den alternativen Einkommensmaßstab von der unteren Mitte in die Mittelschicht im engeren Sinne oder von dieser in die obere Mitte auf. Auch der Anteil der relativ Einkommensreichen – also jener, die über ein Einkommen von mehr als 250 Prozent des Medians verfügen – erhöht sich, und zwar von 3,7 auf 8,4 Prozent.
In lediglich sechs europäischen Ländern ist der Anteil der relativ armen Bevölkerung nach EU-weitem Kaufkraftstandard geringer als in Deutschland.
Im Vergleich zur gesamten EU zeigt die kaufkraftbereinigte Einkommensverteilung das hohe Wohlstandsniveau in Deutschland. So beträgt die nach europaweitem Kaufkraftstandard gemessene Armutsgefährdungsquote in der EU-27 rund 20 Prozent – das sind knapp 3,5 Prozentpunkte mehr, als wenn man dem sonst üblichen Vorgehen zufolge die Daten auf Basis der nationalen Einkommen bevölkerungsgewichtet zusammenfasst.
Auch gegenüber den einzelnen EU-Staaten steht Deutschland bei der kaufkraftbereinigten EU-weiten Einkommensverteilung gut da:
In lediglich sechs Ländern ist der Anteil der relativ armen Bevölkerung nach EU-weitem Kaufkraftstandard geringer als in der Bundesrepublik.
Der Anteil der relativ Reichen ist sogar nur in Österreich und Luxemburg höher als hierzulande – wobei im Großherzogtum 25 Prozent der Einwohner zur obersten Einkommensschicht der EU gehören.
Der EU-weite Vergleichsmaßstab verdeutlicht aber auch, dass insbesondere in (Süd-)Osteuropa trotz substanzieller Einkommenszuwächse in den vergangenen Jahren nach wie vor ein starkes Wohlstandsgefälle zum EU-Durchschnitt besteht:
In fünf EU-Ländern gilt mehr als die Hälfte der Bevölkerung als armutsgefährdet, wenn man das kaufkraftbereinigte Medianeinkommen der gesamten Europäischen Union als Bezugsgröße zugrunde legt.
Zu dieser Ländergruppe zählen unter anderem auch Ungarn und die Slowakei, die nach rein nationalen Einkommensmaßstab zu den EU-Mitgliedsstaaten mit einem unterdurchschnittlichen Armutsrisiko gehören.